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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die hellenische Kunst

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Die hellenische Kunst.

Ursachen der Blüte und des Verfalls der Künste. Das Gedeihen der Kleinkünste ist vielleicht noch mehr als jenes der "hohen" Kunst durch die geistige Bildung des ganzen Volkes bedingt, die wieder von der wirtschaftlichen Lage abhängt. Empfänglichkeit und Verständnis für das Schöne - kürzer gesagt: Geschmack - müssen in die breiten Schichten des Volkes gedrungen sein, diese aber auch die Mittel zu einer feineren Lebensführung besitzen. Ein Volk, das arm an Mitteln ist, bleibt auch arm an Geist, und die "ideale" Kunst bedarf eines reichen "Nährbodens."

Der tiefe Verfall des Kunstgeistes und der Kunstfertigkeit, der im 5. Jahrhundert n. Chr. eintrat, war eine unbedingt notwendige Folge des staatlichen und wirtschaftlichen Zusammenbruches, nicht aber des Aufkommens einer neuen - der christlichen - Weltanschauung, die unter anderen Umständen belebend und befruchtend hätte wirken müssen. In dieser Hinsicht besteht zwischen dem Ausgang des Altertums und jenem des Mittelalters ein gegensätzlicher Unterschied, denn das Ende des letzteren ist der Beginn einer Blütezeit der Kunst.

Der Einfluß der "antiken" Kunst. Es mag am Platze sein, einige Worte der Thatsache Zu widmen, daß die hellenische Kunst über anderthalb Jahrtausende hindurch einen die ganze Entwicklung bestimmenden Einfluß übt, der zwar zeitweilig zurückgedrängt wird, dann aber nur in verstärktem Maße auftritt. Schon der Sprachgebrauch deutet diese Herrscherrolle an. Sie ist nicht nur schlechtweg die "antike" Kunst, als ob das ganze Altertum keine andere hervorgebracht hätte, sondern auch die "klassische", d. h. vollendete und vorbildliche. Die Frage nach den Ursachen und der Berechtigung dieser Erscheinung muß sich da wohl aufdrängen. Es soll nicht verkannt werden, daß einigermaßen auch die "Gewohnheit" eine Rolle spielt; dies gilt aber doch nur von den Kunst-Unverständigen, welche ohne eigenes Urteil blos dem Herkömmlichen oder der Mode zu huldigen vermögen. Dies trifft jedoch nicht zu hinsichtlich der wirklichen Kunstkreise, und wenn auch diese immer wieder in den Bann der "Antike" geraten, so müssen wohl starke "innere" Gründe obwalten. Man wird diese leicht erkennen, wenn man gewisse Voraussetzungen aller "wahren und rechten" Kunst in Betracht zieht.

Eine ihrer notwendigen Grundlagen ist vor Allem ein inniges Verhältnis zur Natur; je näher der Künstler dieser steht, desto größer wird auch seine schöpferische Kraft sein; denn Kunst ist schließlich nichts anderes, als ein freies Schaffen aus dem eigenen Geiste, oder deutlicher gesagt, Gedanken- und Vorstellungskreise heraus, aber innerhalb der Grenzen des "Natürlichen"; was jedoch nicht gleichbedeutend mit dem "Wirklichen" ist. In einem solchen Schaffen bedarf es aber ebensowohl einer regen und thätigen Einbildungskraft, wie der völligen Unbefangenheit gegenüber den Erscheinungen der Wirklichkeit. Das sind Eigenschaften, welche dem Jugend-Geiste zukommen, der mit sorgloser Heiterkeit die Dinge betrachtet und sich dem dichterischen Spiele der Einbildungskraft hingiebt.

Bei den Griechen fanden sich ursprünglich die genannten Vorbedingungen, und sie erhielten sich, wenigstens für die Künstler, auch in der ganzen Zeit der hellenischen Kultur. Die Schwankungen und Stilwandlungen der antiken Kunst, von denen die Rede war, sind deshalb auch abhängig von dem Maße, in welchem jene Bedingungen jeweils vorhanden waren. Man darf den wichtigen Umstand nicht übersehen, daß die Kulturverhältnisse der antiken Zeit für das Hervortreten der obenerwähnten Eigenschaften auch günstig waren. Die geistige Thätigkeit war nicht in dem Maße, wie etwa heute, für ernste und schwere Aufgaben in Anspruch genommen; die "Wissenschaften" waren einfacher Natur und selbst sie gestatteten das Walten einer dichterischen Auffassung. Das ganze geistige Leben erscheint eben durch das Dichterische beherrscht, und damit war auch dem künstlerischen Schaffen freier und weiter Raum gegeben. Einfacher als in der späteren Zeit war auch der gesamte Vorstellungs- und Gedankenkreis, der eine nachhaltige Erweiterung erst durch das Christentum erfuhr. Diese Beschränkung hinsichtlich des Stoffes gestattete, alle Kraft auf die Ausbildung der Form zu vereinigen: und die Erfindungsgabe bethätigte sich daher vorwiegend in der letzteren Richtung. Der genannte Umstand war nicht nur für den Künstler insofern