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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

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Die hellenische Kunst.

günstig, als er den einfachen, ihm vertrauten Stoff leichter beherrschte und sich nicht erst mit der Ergründung desselben abzumühen hatte, sondern auch in der Hinsicht, daß er allgemeines Verständnis finden konnte. Dies erklärt auch, daß die Masse des Volkes "kunstsinnig" wurde, weil die verständlichen Kunstwerke "wirkten"; wobei auch noch der äußerliche Umstand in Betracht kam, daß sich das Leben der Griechen und Römer in der Oeffentlichkeit "auf dem Markt und den Straßen" abspielte, und hier das Auge überall Werken der Kunst begegnete. Dieses Leben im Freien mußte andererseits auch den Sinn für die Natur wecken und rege erhalten, und daß die Griechen in einem innigen Verhältnis zu derselben - wenn auch in anderer Art, als unser heutiges "Naturgefühl" ist - standen, dies erhellt daraus, daß ihre Bauten feinsinnig zur Landschaft gestimmt sind. Vor allem zeigt sich dies aber in der künstlerischen Behandlung des menschlichen Körpers, als des feinsten und schönsten Gebildes der Natur. Daß ihn die Antike mit Vorliebe nackt bildete, hat ebenfalls seinen Grund darin, daß sie auf das natürlich - Wesentliche und nicht auf das zufällig - Aeußerliche (wie Tracht und Schmuck) das Schwergewicht legte; daher denn auch die Gewandung sich den Körperformen ebenmäßig anpaßt.

An früherer Stelle habe ich darauf hingewiesen, daß die heutige Weltkultur aus dem mittelmeerländischen Kulturkreise hervorgegangen ist. Die Jugendzeit des letzteren ist eben die Zeit der Antike; es war die Jugendlichkeit mit allen Schwächen und Vorzügen, mit ihrer dichterischen und schwärmerischen Stimmung, sorglosen Heiterkeit und rücksichtslosen Unbefangenheit, mit der kostbaren Gabe, sich über die gemeine Art des Irdischen zu erheben und die Wirklichkeit im verklärten Lichte zu sehen, mit dem natürlichen Adel der geistigen und körperlichen Frischkraft und Unverdorbenheit. Wenn die Kunst gedanklich, spitzfindig und grüblerisch, ihre Formensprache kraus und gekünstelt geworden ist, dann muß, wenn der naturnotwendige Rückschlag eintritt, die Antike "zu Ehren" kommen und als lehrreiches Vorbild gelten, weil sie zurückführt zur Einfachheit, Wahrheit und Klarheit.

^[Abb.: Fig. 198. Kapitäl aus den Bädern des Caracalla in Rom.]