Schnellsuche:

Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

265

Germanische Kunst.

vornherein letzteren an, wollte ihre Vorstellung von dem Ideal in sinnfälligen Formen wiedergeben. Die Antike konnte ihr daher nicht vorbildlich sein, denn die "idealisierte Natur" derselben entsprach nicht der christlichen Auffassung, und andererseits ließ gerade das frische und richtige Naturgefühl die Germanen erkennen, daß es nicht die "wahre" Natur sei, was die antike Kunst wiedergab. Es galt daher erst die Formen für den Ausdruck der christlich-germanischen Empfindungs- und Gedankenwelt zu finden, die Natur vom Standpunkte dieses christlichen Geistes aus zu erkennen und daneben auch noch die Arbeitsfertigkeit zu entwickeln.

Eigenart der Bildnerei und Beziehung zur Baukunst. Zu allen Zeiten und allerorts ist die Malerei stets die "jüngste" der Schwesterkünste, welche zuletzt zur Entwicklung gelangt. Es ist dies wohl begründet, denn sie setzt nicht nur bei dem schaffenden Künstler, sondern auch bei dem Beschauer gewisse Fähigkeiten zum vollen Verständniß voraus. Beide müssen erst lernen, die auf der Fläche dargestellten Dinge körperlich zu sehen. Ein Werk der Bildnerei versteht auch der einfachste Mensch, der ein Gemälde nur schwer erfaßt. Auch ist das Verhältnis zur Baukunst bei der Bildnerei ein innigeres. So gelangte denn auch im romanischen Zeitalter letztere zu einer schönen Blüte, und zwar zeigt sie in Deutschland Ursprünglichkeit und kräftige Eigenart bei noch unvollkommener Beherrschung der Formensprache, während in Italien und Südfrankreich die größere Arbeitsfertigkeit und die Nachwirkung der Antike gefälligere Werke entstehen lassen. Die normannische Gruppe nimmt eine Art Mittelstellung ein. Die Arbeiten der deutschen Bildnerei bestechen vielleicht das Auge nicht beim ersten Anblick, aber sie machen doch starken und nachhaltigen Eindruck, und bei eingehender Betrachtung erschließt sich das Wesen einer eigentümlichen knospenden Schönheit und damit ihre große Bedeutung für die ganze spätere Entwicklung der Kunst.

Es herrscht auch bei der Bildnerei dieselbe Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit innerhalb der einzelnen Gruppen wie bei der Baukunst, während andererseits allen gewisse Merkmale gemeinsam sind, die sich schon aus dem innigen Verhältnisse zwischen den beiden Künsten ergaben. Die Werke der Bildnerei darf man eigentlich nicht für sich, sondern nur im Zusammenhange mit den Bauwerken, für welche sie geschaffen wurden, beurteilen. Manches, was sonst befremdet, findet dann eine befriedigende Erklärung. Künstlern war die Aufgabe gestellt, einen bestimmten Bauteil zu schmücken, und sie mußten sich den gegebenen Verhältnissen anpassen, sowohl hinsichtlich des Raumes, wie der Umgebung. Wenn die Bildwerke dieser Zeit beispielsweise dadurch gekennzeichnet sind, daß die Gestalten lang und hoch, in gerader,

^[Abb.: Fig. 270. Vom Deckel des Echternachter Evangelariums.

Gotha, Museum.]

^[Abb.: Fig. 271. Silberner Schrein im Dom zu Aachen.]