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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

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Germanische Kunst.

gebogene Körperhaltung wird geradezu bezeichnend für die späteren Werke der gotischen Bildnerei und findet auch außerhalb Deutschlands Aufnahme. Zwei Umstände mochten diese Weise begünstigt haben: einerseits die Absicht, einen wirkungsvollen Gegensatz zu den aufstrebenden Bauformen zu erzielen, andererseits auch die Beobachtung der damals herrschenden "Mode", denn nach den Berichten der Zeitgenossen war in der vornehmen Gesellschaft eine solche gezierte, weichliche Haltung üblich geworden, wohl um die Verfeinerung der Sitten gegenüber der rauhen "Kraftmeierei" der vorigen Zeit kundzuthun. Es prägt sich darin aber auch unverkennbar das lebhafte Gefühl für die Natürlichkeit der Erscheinung aus, deren Wiedergabe man anstrebt; wie denn auch die unter den leichten Gewändern erkennbaren Körperformen immer richtiger und getreuer gebildet werden; nur ist man noch nicht so weit fortgeschritten, um den Gestalten eine wirklich ungezwungene, freie - also wirklich natürliche - Haltung zu geben; dazu mußte die Naturbeobachtung noch eindringlicher gepflegt werden. So erscheint denn diese Biegung und Windung der Körper als ein Auskunftsmittel, um die künstlerische Absicht - natürliche Erscheinung - verständlich zu machen. Diesem Zuge entsprach es auch, daß jetzt das Schlanke und Sehnige der Körper zurücktritt hinter den rundlichen vollen Formen des Fleisches; und weiter ergab sich daraus, daß weibliche und jugendliche Gestalten - mit lockigen Haaren - bevorzugt wurden und besser gelangen, sobald einmal die Freude an dem "Fluß der Linien" erwacht war. Darum sagte auch das weiche, bildsame Holz den deutschen Bildnern besonders zu und ihre besten Arbeiten sind aus diesem Stoffe geschaffen. Neben dem Bestreben nach Naturwahrheit macht sich aber - namentlich zu Ende des Zeitraumes - der die ganze Kunst allmählich durchdringende Zug nach dem Malerischen geltend, welcher schließlich der Malerei die führende Rolle verschaffte. In Deutschland hatte ja die Tafelmalerei schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts einen bedeutsamen Aufschwung genommen, wie es außerhalb Italiens sonst nirgends der Fall war, und es ist daher erklärlich, daß die beiden Schwesterkünste sich gegenseitig stark beeinflußten. Das Emporkommen der Malerei hat ebenso wie die erfreuliche Blüte der Bildnerei in Deutschland, welche bis zu Ende des Zeitraumes vor

^[Abb.: Fig. 330. Niccolo Pisano: Anbetung der Könige.

Flachbild von der Kanzel des Baptisteriums in Pisa.]