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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die Zeit der "Renaissance"

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Die Zeit der "Renaissance".

Palladio. Da trat gegen Ende des Jahrhunderts noch ein Künstler auf, der sich dem herrschenden Geschmack nicht beugte und den Venezianern seine strengen Formen aufzwang: Andrea Palladio (1505-1580). Dieser war, abweichend von der allgemeinen Vielseitigkeit, nur Baumeister, und sein ganzes Streben ging danach, in seiner Kunst so vollkommen zu werden, daß er in seinen Werken die Antike in ihrer edelsten Formenreinheit wiedererstehen lassen konnte. Um sein Ziel zu erreichen, studierte er auf das Sorgfältigste die Reste der alten römischen Baukunst, deren inneren Zusammenhang er vor allem zu ergründen suchte. In der genauen Kenntnis der antiken Formen und Verhältnisse liegt Palladios Bedeutung. Schöne Verteilung der Räume und Massen, kräftige Gliederungen - um zur Belebung der Formen starke Schatten zu erhalten - sind die Mittel, die er immer wieder mit gleicher Vollendung anwendet.

Palladio ist der hervorragendste in der Gruppe der vorhin erwähnten "Theoretiker"; man darf wohl sagen, daß er die Antike "errechnet" hat, und damit ist ausgedrückt, was ihn von den übrigen Meistern der Renaissance trennt: er rechnete, wo andere erfanden. Deshalb lassen seine Werke bei aller Großartigkeit kalt, sie wirken mehr auf den Verstand als auf das Gemüt. Dazu kommt eine andere Eigenart, die ebenfalls auf dem Streben, der Antike näher zu kommen, beruht: Palladios Kunst nimmt nirgends örtliche Eigentümlichkeiten auf, deshalb wird sie nirgends bodenständig und niemals volkstümlich. Mit Vignola verglichen, erscheint jedoch Palladio als der weitaus größere Geist. Er suchte ein "organisches System" der Baukunst aufzustellen, dessen Grundgedanke war, daß jeder Bauteil in lebendiger Beziehung zum Ganzen stehen müsse und diese Beziehung in einem ganz bestimmten Zahlverhältnisse sich auszudrücken habe, daher alle Abmessungen nach Höhe und Breite der Teile einfach durch jene des Ganzen gegeben seien.

Das erste größere Werk Palladios ist ein ähnlicher Bau, wie Sansovinos Bibliothek: die sogen. Basilika in Vicenza (Fig. 432). Sie ist eine Doppelhalle mit Bogen und Säulenstellungen, doch sucht sie nicht durch Schmuckhaftigkeit und zierliche Ausführung der Einzelheiten, sondern nur durch die Anordnung, schöne Verhältnisse und Gliederungen zu wirken. Bei Palastbauten liebte es Palladio, die Außenseite mit nur einer Säulenordnung zu versehen, so

^[Abb.: Fig. 451. Verrocchio: Christus zeigt Thomas die Wundmale.

Florenz. Orsanmichele. (Der Tabernakel ist von Donatello.)]