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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Das 19. Jahrhundert

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Das 19. Jahrhundert.

Wirkung, weil sie das ganze Leben der Menschheit in ihren Bereich zogen. In einer solchen schöpferischen, vorwärtsstürmenden Zeit mußte auch die Kunst eine besondere Fortentwicklung erfahren, denn in ihr prägt sich ja auch stets der Geist einer Zeit vollkommen aus. Die Gegensätze zwischen Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts, die raschen Wandlungen - und zwar solche im Sinne des Fortschreitens - innerhalb desselben, finden daher auch ihr Spiegelbild in der Kunst; die Unterschiede zwischen einem J. L. David und Böcklin, zwischen Canova und Max Klinger sind im Grunde gewaltiger als zwischen den Meistern des Trecento und jenen des Cinquecento.

Klassizismus. "Im Anfange war der Klassizismus, und dieser ging von Frankreich aus" - mit etwa diesen Worten könnte man die Geschichte dieses Zeitraumes einleiten. Der erste Teil des Satzes ist allgemein giltig, der zweite nur mit der Beschränkung richtig, daß Frankreich auch noch um die Wende des Jahrhunderts für die europäische Welt die "tonangebende" Macht war. Die Richtung zum Klassizismus hin war aber in den übrigen Gebieten schon selbständig eingeschlagen worden, und man könnte sogar mit einiger Berechtigung den Satz aufstellen, daß sie mehr von England aus als von Frankreich gefördert wurde. Thatsache ist, daß in letzterem Lande seit Poussin die klassizistischen Neigungen niemals ganz verschwunden waren und immer wieder sich regten, nicht minder steht aber auch fest, daß im 18. Jahrhundert die Engländer am entschiedensten denselben Ausdruck gaben.

Es ist wohl am Platze, den Begriff des Wortes "Klassizismus" etwas zu erläutern, das man leider gebrauchen muß, da der Deutsche keinen besseren Ausdruck dafür gefunden hat. Die mehr selbstbewußten Franzosen sprechen von einem "Empirestil" (Stil des Kaiserreichs), eine Bezeichnung, die allerdings nicht ganz zutreffend ist, denn der Stil entstand lange, bevor Napoleon sich die Kaiserkrone auf das Haupt setzte; allerdings hat er unter ihm seinen Triumphzug durch ganz Europa gehalten. In seinem Wesen deckt sich der "Klassizismus" eigentlich vielfach mit der "Renaissance", auch er besteht in der Wiederaufnahme der strengeren antiken Formensprache, und man konnte ihn somit auch als eine Rückkehr zu der Kunstauffassung der Frührenaissance bezeichnen, nur daß man inzwischen infolge gründlicherer Studien mit der eigentlichen Antike noch mehr vertraut geworden war. Wie viel die Entdeckungen in Pompeji (seit 1748) hierzu beigetragen haben, wurde bereits erwähnt; einen nicht minder großen Einfluß hatten aber auch die Forschungen der Engländer Stuart und Revell ^[richtig: Revett], welche 1751-54 die Ruinen von Athen durchforschten und ihre Ergebnisse in dem Werke "Altertümer Athens" veröffentlichten. Wir finden daher auch in dem "Klassizismus" wieder zwei Strömungen: die eine holt sich ihre Anregungen von den Denkmälern der römischen Kunst, die andere von jenen auf griechischem Boden, und man kann sie daher auch als "neulateinische" und "neuhellenische" unterscheiden.

Die Hauptsache bleibt aber doch immer, daß man in der Antike das unübertroffen Vorbildliche sah, aus ihr die Gesetze des künstlerischen Schaffens und der Schönheit ableiten wollte und die Beobachtung der Natur mehr nur als ein Hilfsmittel betrachtete, das man zum Berichtigen wohl brauchen konnte, aber nicht als maßgebenden Leitfaden benutzen sollte. Man strebte wohl die "Wahrheit" an, glaubte aber für den Ausdruck derselben sich jener Sprache bedienen zu müssen, in welcher die Alten so schön und treffend das "Wahre" verkündet hatten. Das Einseitige dieser Anschauungen liegt klar zu Tage. Wohl bleibt die "Wahrheit in der Natur" immer die gleiche, unveränderliche, aber der Grad der Erkenntnis und des Verständnisses derselben ist veränderlich, es wechselt die Auffassung je nach dem geistigen und sittlichen Gehalte der Zeit, und folgerichtig ergiebt sich, daß die Form, in welcher diese Auffassung zum Ausdruck gebracht werden soll, auch veränderlich ist, weil sie letzterer sich anpassen muß. In Kürze läßt sich dies verdeutlichen, wenn ich sage: ebenso wenig wie man ein neuzeitliches wissenschaftliches Werk, einen modernen Roman oder gar eine Zeitung in "klassischem" Latein oder Griechisch schreiben könnte, vermag man mit der antiken Kunstsprache allein auszukommen, um die Natur und Wahrheit nach unserer heutigen Anschauung und unserem Empfinden wiederzugeben. Der