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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Das 19. Jahrhundert

745 ^[Seitenzahl nicht im Original]

Das 19. Jahrhundert.

Vorbemerkung. Man braucht gerade nicht unbedingt auf den herkömmlichen Lehrsatz zu schwören, daß es unmöglich sei, "eine objektive Geschichte der Gegenwart" zu schreiben, und wird doch zugeben müssen, daß thatsächlich eine ungewöhnlich große Schwierigkeit dabei besteht. Sie liegt in der Ueberfülle der Erscheinungen, die man eben "in der Nähe sieht", in der großen Zahl der Persönlichkeiten und Werke, welche eine augenblickliche Aufmerksamkeit erregen, in der verwirrenden Menge der Einzelzüge, welche der Blick zusammenfassen sollte. Es ergeht dem Betrachtenden hier wie bei einem Berge, der seine bezeichnende Form verliert, wenn man an seiner Flanke aufsteigt, das Auge vermag in der Nähe die führenden Linien nicht mehr herauszufinden. Deshalb ist es eigentlich unschwer, eine genaue, fachlich zuverlässige "Chronik", d. h. Beschreibung der Gegenwart zu geben, jedoch unmöglich, eine kritische "Geschichte" kurz zu fassen und mit wenigen klaren Zügen ein deutliches Bild zu zeichnen. Der zeitgenössische Geschichtsschreiber vermag ein getreues "Protokoll" der weltgeschichtlichen Verhandlungen zu liefern, das Resumé, den Ueberblick, muß er den Späteren überlassen.

Dies mußte ich vorausschicken, um es zu rechtfertigen, daß in dem vorliegenden Buche über die Kunst des 19. Jahrhunderts nur einige allgemeine Bemerkungen gegeben werden. Die Vorgänge auf dem ganzen Kunstgebiete "protokollarisch" darzustellen, erfordert ein eigenes Buch und ich muß mir daher vorbehalten, in einem besonderen Bande ein klares, erschöpfend getreues Bild derselben zu entwickeln. An dieser Stelle muß ich mich begnügen auf gewisse, den Gang der Dinge hauptsächlich bezeichnende Erscheinungen hinzuweisen und die Hauptpunkte hervorzuheben, welche den Zusammenhang der Gegenwart mit der Entwickelung in der Vergangenheit erkennen lassen. Es ist ja doch der Hauptzweck dieses Buches, auf Grund der Erkenntnis der Vergangenheit zu "eigenen Beobachtungen" anzuregen und dadurch das Verständnis der neuzeitlichen Kunst anzubahnen.

Einer eingehenden Schilderung der allgemeinen Verhältnisse bedarf es kaum. Das große Ereignis der französischen Revolution mit all ihren Folgen bestimmte zunächst die ganze Gestaltung der Dinge. Die unumschränkte Herrschergewalt wurde allmählich in allen europäischen Staaten, außer Rußland, beseitigt, das Bürgertum gelangte zu einer entscheidenden Bedeutung im staatlichen Leben, der volkliche Gedanke trat überall schärfer hervor - das sind die drei Hauptgrundzüge des politischen Lebens in dem Jahrhundert von 1780 bis 1880. In den letzten Jahrzehnten desselben kommt noch ein vierter hinzu: der Kampf um eine neue gesellschaftliche Ordnung. Alle diese Umwälzungen auf politischem Felde erscheinen beinahe bedeutungslos gegenüber jenen, die sich auf den anderen Gebieten vollzogen infolge einer unerhörten Anspannung der geistigen Kräfte der Menschheit. Die erstaunlichen Erfindungen und Entdeckungen, welche dem neuzeitlichen Leben ein von allem früheren gänzlich verschiedenes Gepräge gaben, die Erfolge der Wissenschaft, der Aufschwung des Schrifttums - dies alles zusammen läßt das 19. Jahrhundert in der That als ein außerordentliches erscheinen, mit welchem keines der früheren zu vergleichen ist. So tief auch zu Ausgang des 15. Jahrhunderts die Entdeckung einer neuen Welt und die Erfindung der Buchdruckerkunst in die damaligen Verhältnisse eingriffen, so sind doch die Vorgänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer noch nachhaltigeren