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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ägypten

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Ägypten (alte Kultur, Mythologie).

Mut (Mutter) hervor, welche dem Ammon als weibliches, empfangendes Prinzip zur Seite gestellt ward. Sie findet sich dargestellt mit der hohen Mütze, dem königlichen Kopfschmuck von Oberägypten. Ihr ist der Geier geheiligt, wie sie selbst auch mit dem Geierkopf oder auch selbst als Geier erscheint.

Von den Göttern der 2. Dynastie genügt es, Chensu (Chons), den Gott des Mondes, und Thoth, den Schreiber der Himmlischen, hervorzuheben. Der erstere bildet mit Ammon und Mut die Triade von Theben, der letztere heißt "Schreiber der Wahrheit", "Herr des göttlichen Worts" und trägt die Schreibtafel, den Griffel oder den Palmzweig, auch die Straußfeder als Sinnbild der Wahrheit in den Händen. Als Gott der Weisheit hat er die heiligen Schriften offenbart und aufgezeichnet und ist daher vorzugsweise der Gott der Priester. Da er die Zeiten aufschreibt und damit regelt, hat er auch eine Beziehung zum Mond und wird gleichbedeutend mit dem Mondgott. Er nimmt auch an der Prüfung der Verstorbenen in der Unterwelt teil. Ihm war der erste Monat des ägyptischen Jahrs heilig. Waren so die religiösen Anschauungen der alten Ägypter von dem Gegensatz zwischen Leben und Tod, zwischen den heilbringenden und verderblichen Kräften der Natur beherrscht, so wurden jene Mächte auch als im Kampf miteinander befindlich gedacht, wobei die dem Menschen feindlichen zwar auf kurze Zeit obsiegten, schließlich aber doch unterlagen. Seb und Nut, der Gott und die Göttin des Himmelsraums, erzeugen den Osiris und die Isis sowie den bösen Typhon (Seth) und die Nephthys. Osiris vermählt sich mit Isis und waltet segensreich über Ä., wird aber von seinem Bruder Typhon umgebracht, sein Leichnam in einem Kasten in den Nil geworfen. Traurig schweift Isis umher, den Leichnam des Gatten zu suchen, bis sie ihn bei Byblos findet, wo die Wellen den Kasten ans Land gespült haben und eine Tamariske darüber emporgewachsen ist. Isis bringt den Leichnam nach Ä. zurück und bestattet ihn zu Philä. Horos aber, des Osiris und der Isis Sohn, kämpft, herangewachsen, um seinen Vater zu rächen, mit Typhon und erschlägt ihn. Osiris war jedoch nicht dem Tod erlegen, sondern in die Unterwelt hinabgestiegen, wo er fortan herrschte. Dieser Mythus soll den durch die Jahreszeiten bedingten Wechsel der Vegetation bedeuten. Nach der fruchtbaren Zeit folgt in Ä. bis zur Sommersonnenwende und zum Eintritt der Überschwemmung eine Periode austrocknender Hitze und Unfruchtbarkeit. In dieser Zeit hat Typhon Osiris besiegt und mit Hilfe seiner 72 Genossen, welche die 72 Tage der größten Hitze bezeichnen sollen, erschlagen. Die Entfernung der Leiche des Osiris bedeutet, die schaffende Naturkraft entweiche aus Ä., bis Horos den Typhon überwindet, d. h. die Natur sich wieder infolge der Überschwemmung belebt. Der Tod des Osiris ist nur ein Scheintod; der Gott lebt, wie auf der Oberwelt in seinem Sohn, so in der Unterwelt selbst fort, um die Seelen der gestorbenen Menschen zu neuem Leben zu erwecken. Jeder Verstorbene wird zu einem "Osiris"; das Schicksal des Menschen ist ein Abbild des göttlichen, welches das Leben und Absterben der Natur symbolisiert. Typhon (Seth) ist Personifikation aller schädlichen, dem Menschen feindlichen Naturkräfte, sowohl der Unfruchtbarkeit als auch der Dunkelheit, der Gott des öden, salzigen Meers im Gegensatz zu dem befruchtenden Nilwasser. Ihm gehören alle schädlichen Pflanzen und Tiere an, und von ihm rühren alle verderbenbringenden Ereignisse in der Natur her, wie er auch der Urheber des moralisch Bösen, der Vater der Lüge geworden ist. Seine Farbe war dunkelrot, gleich der brennenden Sonne im Staub der Wüste; daher sollen ihm rothaarige Menschen geopfert worden sein. Horos (Hor), der Rächer seines Vaters Osiris, wird häufig als Kind dargestellt, den Finger am Mund (Harpokrates), aber schon in dieser Gestalt "großer Gott, Rächer seines Vaters" genannt, der herangewachsen den Typhon überwindet. Als "Sonnengott beider Horizonte" (Harmachis) erscheint er mit dem Sperberkopf des Ra, mit den Zeichen der Herrschaft und des Lebens. Ihm wird die Göttin Hathor zur Seite gestellt, die Aphrodite der Griechen, in den Inschriften "Auge der Sonne", "Herrin der Scherze und des Tanzes" genannt und mit Stricken und dem Tamburin, den Symbolen der Freude und des fesselnden Liebreizes, dargestellt. Vornehmlich aber personifiziert sie die Naturpotenz des Gebärens. Ihr sind die weiblichen Sperber und die Kühe heilig, wie sie auch selbst mit Kuhhörnern und der Sonnenscheibe dazwischen oder mit dem Kuhkopf, ja selbst als eine Kuh abgebildet wird.

In Osiris und Horos sind alle wohlthätigen Naturkräfte vereinigt und deren siegreiche, das Böse überwindende Macht personifiziert. Osiris ward angerufen als "König des Lebens", als "Herr von unzähligen Tagen"; aber die Herrschaft über Ä. hat er dem Horos überlassen und waltet selbst in der Unterwelt. Die immergrüne Tamariske ist sein Baum und der Reiher (Phönix) sein Tier. Isis (Ese), "große Göttin", "königliche Gemahlin", ist die Erde, deren vegetative Kraft alljährlich durch Osiris geweckt und befruchtet wird. Die Göttin Mut, alle Göttinnen der Empfängnis und Geburt, Neith von Sais, Pacht und Hathor gehen in die Isis über, indem sie zugleich besondere Gestalten neben ihr bleiben. Osiris und Isis wurden in ganz Ä. verehrt, namentlich aber zu Abydos und This in Oberägypten und an der Südgrenze, auf der Insel Philä im Nil oberhalb Syene. Hier ward das von Tamarisken beschattete Grab des Osiris auf einer kleinen Insel, die nur Priester betreten durften, gezeigt, außerdem aber auch bei andern Tempeln des Gottes, das echteste in der Stadt Busiris im Delta, wo auch der größte Tempel der Isis stand und beiden Gottheiten große Feste gefeiert zu werden pflegten. An dem Tag, an dem die Sonne durch das Zeichen des Skorpions geht, sollte Typhon den Osiris erschlagen haben, und an demselben Tag, von welchem an der Anfang der größten Hitze gerechnet ward, begann das Fest der Trauer um des Osiris Tod. Diesem Trauerfest folgte, wenn die ersten neuen Keime nach der Überschwemmung sich zeigten, die Feier des zu neuem Leben erwachten Osiris. Die Gestalten des Osiris und der Isis sind allein Gegenstände eines reichen und tiefen Mythus, während die übrigen Götterfiguren bloß Personifikationen von Naturpotenzen oder Lokalgötter sind. Hieraus sowie aus dem Umstand, daß dem Götterkreis des Osiris, der aus diesem selbst sowie aus Horos, Typhon, Isis und Nephthys besteht, die fünf Schalttage des ägyptischen Jahrs, welches ursprünglich nur 360 Tage zählte, geweiht waren, möchte man auf den spätern Ursprung des Osirisdienstes schließen, wenn nicht der das Jahr zu 365 Tagen bestimmende Kalender schon aus älterer Zeit herrührte und Osiris Lokal-^[folgende Seite]