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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Appenzell

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Appenzell (Kanton, Geographisches).

zeigt sich oft ein engherziges, ruhmrediges Wesen und viel Anhänglichkeit an altes Herkommen. Großartige Anstrengungen für Zwecke der Erziehung und Wohlthätigkeit, in neuerer Zeit namentlich auch für Straßenbauten, zieren die sozialen Bestrebungen Außer-Rodens. Die Inner-Roder stehen an geistiger Begabung nicht tiefer, sind aber durch und durch ein patriarchalischer Hirtenstand geblieben, behaglich und bequem, gemütlich, heiter, witzig, gastlich, alter Sitte ergeben, einfach und genügsam, neugierig, mit großer Vorliebe körperlichen Übungen und Spielen zugethan. Die Frauen haben ihre bunte und die Sennen ihre wunderliche Tracht seit Jahrhunderten beibehalten. Staatsverwaltung, Schulen und Straßenwesen haben indessen angefangen, sich zu heben. Die zwei allgemeinsten Erwerbsquellen sind Viehzucht, mehr in Inner-Roden, und Baumwollindustrie, mehr in Außer-Roden überwiegend. Kartoffeln wachsen wenig, noch weniger Getreide, fast kein Wein, Obst nicht genügend. Der Fruchtmarkt des Landes ist das St. Gallische Rorschach; Märkte für andre Viktualien sind St. Gallen, Altstätten (ebenfalls zu St. Gallen gehörig) und Herisau, dessen Wochenmärkte von den Bauern Thurgaus befahren werden. Der Wald, nirgends in ausgedehnten Beständen, jedoch in kleinen Stücken über das ganze Land zerstreut, genügt, wenigstens in Außer-Roden, dem Bedarf nicht; aber man bemüht sich, dem Mißverhältnis entgegenzuwirken. Der frühere Rindviehschlag ist soviel wie nicht mehr vorhanden. Der Hauptnutzen liegt in der Milch; Fettkäsereien finden sich fast in allen Gemeinden, auch für die Ausfuhr arbeitend. A. ist das Land der Molkenkurorte. Inner-Roden hat sehr viele Ziegen, aus deren Milch die Molken bereitet und zur Nachtzeit nach den Kuroten ^[richtig: Kurorten] getragen werden. Alljährlich strömen Tausende von Kurgästen dahin, besonders nach Gais, Weißbad, A., auch nach Gonten, das eine Heilquelle besitzt, Heiden und Heinrichsbad. Stark ist auch der Touristenzug zum Säntis. Die Unternehmungen der St. Galler und Appenzeller Baumwollfabrikanten sind ausgedehnt; sie beschäftigen Arbeiter selbst auf der schwäbischen Seite des Bodensees. Den Absatz des Fabrikats besorgen manche Industrielle selbst, allein ihr Vereinigungspunkt und Markt ist St. Gallen. Die Handspinnerei, früher allgemein verbreitet, hat aufgehört; Weben und Sticken sind in den Vordergrund getreten. Auch Bleichen, Appretierungen, Druckereien, Färbereien etc. florieren, namentlich in Herisau, das mit der nahen St. Galler Bahnstation Winkeln durch eine Schmalbahn verbunden ist. Neben verschiedenen Zeugen webt man hauptsächlich Musseline, Tüll, Gaze, Blattstich- und broschierte Zeuge. Wohl ein Viertel der Bevölkerung ist mit Weberei beschäftigt. Neben der Handstickerei blüht nun auch die Maschinenstickerei (1100 Maschinen). Die besten Handstickerinnen findet man in Inner-Roden; unter ihren Händen entfalten sich kunstreiche Blumen, welche in Form und Farbenpracht den natürlichen kaum nachstehen. Man webt die Musseline in glatten Stücken zu Vorhängen oder zu Halstüchern, brodiert sie mit weißem Baumwollgarn zu Chemisetten, Hauben, Röcken oder mit gefärbter Baumwolle (auch oft mit Seide) zu Schürzen, Turbanen, Tapeten, Chorhemden, Manschetten, Bettdecken, Shawls und Schleiern. Der interne und äußere Verkehr erforderte eine Menge schwieriger und brückenreicher Straßenzüge. Die wichtigsten laufen in St. Gallen als in einem gemeinsamen Brennpunkt zusammen; zwei Paßstraßen führen in das Rheinthal, über den Ruppen und Stoß; andre münden nach dem Toggenburg. Die Schmalbahn Winkeln-Herisau ist bis Urnäsch fortgesetzt (1875) und erstrebt Weiterbau nach Gonten-A.; von Rorschach ersteigt, ebenfalls seit 1875, eine Zahnradbahn, 5½ km lang, die Höhe von Heiden.

Der Halbkanton Außer-Roden, 260,6 qkm groß mit 51,958 Einw. (darunter 3694 Katholiken), bildet nach der Verfassung vom 15. Okt. 1876 (revidiert 25. April 1880) einen Freistaat mit rein demokratischer Verfassung und als solcher ein Glied der Schweizer Eidgenossenschaft. Die Gesamtheit der "Landleute" und hier ansässigen Schweizerbürger übt ihre Souveränität in der Landsgemeinde, die alle Jahre, abwechselnd in Trogen und Hundwyl, gewöhnlich am letzten Sonntag des Aprils gehalten wird. Ihr Besuch ist obligatorisch. Sie besitzt die gesetzgebende Gewalt, bestimmt die Verfassung, wählt die Standeskommission und das Obergericht sowie das Mitglied des Schweizer Ständerats, erteilt das Landrecht, bewilligt die Ausgaben für neue wichtige Bauten, nimmt die Landrechnung ab etc. Initiativvorschläge können nur durch das Mittel des Kantonsrats vor die Landsgemeinde gebracht werden; sofern dieser jedoch die Anregung ablehnt, kann der Antragsteller, aber nur vom "Stuhl" (d. h. dem erhöhten Sitz der Obrigkeit) aus, seine Sache persönlich der Landsgemeinde vortragen. Der Kantonsrat, der in Herisau seine Sitzungen hält, besteht aus den Abgeordneten der Gemeinden (je 1 auf 1000 Seelen). Vollziehende Landesbehörde ist der Regierungsrat, aus sieben Mitgliedern; der eine der Landammänner ist als regierender Landammann der Präsident der Behörde, darf aber diese Stelle höchstens drei Jahre nacheinander bekleiden. Das Obergericht besteht aus elf Mitgliedern und hält seine Sitzungen in Trogen ab. Todesurteile dürfen nicht vollzogen werden, bevor der Kantonsrat die Begnadigung verweigert hat. Die Synode, mit einem aus ihrer Mitte gewählten Dekan, versammelt sich in der Regel jährlich einmal, wechselweise in Trogen und Herisau. Das Kriminalgericht, vom Kantonsrat gewählt, hält seine Sitzungen in Trogen. An Stelle der hergebrachten Einteilung in Vorder- und Hinterland sind, wenigstens für die Bezirksgerichte, drei Bezirke getreten: Vorderland (Heiden), Mittelland (Teufen), Hinterland (Herisau). Die Gemeindeverwaltung, je für ein Jahr bestellt, besteht aus "Hauptleut' und Rät'", d. h. einem Gemeinderat, dessen beide Präsidenten den Titel Hauptmann führen. Das evangelisch-reformierte Bekenntnis ist Landesreligion; den Katholiken ist gemäß der Bundesverfassung freier Kultus zugesichert. Das Armenwesen ist Sache der Gemeinden. Die Jahresrechnung der "Landeskassa" für 1882 ergab 394,176 Frank Einnahmen und 382,674 Fr. Ausgaben. Den Hauptposten der Einnahmen bildet die Landessteuer (157,725 Fr.), den Hauptposten der Ausgaben das Straßenwesen (112,683 Fr.). Das reine Staatsvermögen betrug zu Ende des Rechnungsjahrs 790,335 Fr. Schul- und Kirchenwesen sind wesentlich Gemeindesache. Das Schulwesen gehört zu den regenerierten und umfaßt Primärschulen, Sekundär- oder Realschulen und die Kantonsschule zu Trogen.

Der Halbkanton Inner-Roden, 159 qkm mit 12,841 Einw. (darunter 545 Protestanten), bildet gemäß der neuen Verfassung vom 24. Okt. 1872 (revidiert 1883) einen Volksstaat und ein Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Die Staatsgewalt ruht wesentlich im Volk und wird durch die Landsgemeinde, die aus der Gesamtheit der Kantons- und ansässigen Schweizerbürger besteht, ausgeübt.