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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Appenzell

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Appenzell (Geschichte).

Die Landsgemeinde, deren Besuch obligatorisch ist, gibt sich Verfassung und Gesetze und wählt die obersten Landesbehörden: Standeskommission und Kantonsgericht, erteilt das Landrecht und vernimmt den Jahresbericht über die Amtsverwaltungen etc. Sie versammelt sich regelmäßig je am letzten Sonntag des Aprils. Die Standeskommission, die eigentliche Regierung des Landes, besteht aus neun Mitgliedern, von denen der regierende Landammann nach zweijähriger Amtsdauer auf das folgende Jahr nicht wieder wählbar ist. Das Kantonsgericht besteht aus 13 Mitgliedern. Der Große Rat, aus der Standeskommission und den Volksrepräsentanten (je 1 auf 250 Seelen der Bezirksbevölkerung) gebildet, ist das Organ der gesetzgebenden Gewalt. Das Land ist in sechs Bezirke eingeteilt, deren Verwaltung auch hier die "Hauptleut' und Rät'" üben. Die Verfassung garantiert die üblichen Grundrechte wie in Außer-Roden. Die katholische Religion genießt als die Religion des Volks Schutz seitens des Staats; andern Konfessionen ist Kultfreiheit zugesichert. Der öffentliche Unterricht ist Sache des Staats und der Kirche, der obligatorische unentgeltlich. Inner-Roden hat nur Primärschulen und eine Sekundärschule. Die Staatsrechnung Inner-Rodens für 1882 ergab bezüglich der Verwaltung des "Landsäckelamts" 200,159 Fr. Einnahmen und 156,829 Fr. Ausgaben; das Vermögen zeigte an Aktiven 391,569 Fr., an Passiven 333,669 Fr. Hauptort ist der Flecken A., ein im Thal der Sittern freundlich gelegener, während des Sommers sehr belebter Ort mit einem Kapuzinerkloster und (1880) 4302 Einw. (darunter 157 Protestanten). In der Nähe die beiden Molkenkurorte Weißbad und Gonten, ferner die Ebenalp, der Säntis etc.

[Geschichte.] Seit dem 8. Jahrh. hatte das Kloster St. Gallen durch Kauf und Schenkung allmählich die Grundherrschaft über den ganzen jetzigen Kanton A. erworben. Um 1070 baute angeblich Abt Nortbert ein Gotteshaus am Fuß des Säntis, das, des Abtes Zelle (Abbatis cella) genannt, der um dasselbe entstehenden Gemeinde und später der ganzen Gegend den Namen gab. Im J. 1345 erwarb das Kloster mit der hohen Gerichtsbarkeit sämtliche Hoheitsrechte über das Land; aber schon 1377 zwangen die fünf Gemeinden A., Hundwyl, Urnäschen, Gais und Teufen den Abt Georg zu dem Zugeständnis, daß sie in ein Bündnis mit den schwäbischen Städten treten, sich eine Landsgemeinde und einen Landrat von 13 Mitgliedern geben durften. So entstand das demokratische Gemeinwesen, welches zuerst 4. Juli 1379 als "A. das Land" bezeichnet wird. Die Härte, womit der neue Abt Kuno von Stoffeln (1379-1411) seine herrschaftlichen Rechte durch Einzug des Todfalls, Beschränkung des freien Zugs, der freien Heirat etc. geltend machte, bewog die Appenzeller, denen sich nunmehr auch die übrigen Gemeinden des Berglands anschlossen, im Verein mit der Stadt St. Gallen sich gegen den Abt zu erheben (1401). Sie zerstörten die äbtischen Burgen, traten, als St. Gallen vom Kampf abstand, in ein "Landrecht" mit den Schwyzern und brachten mit ihrer Hilfe dem Heer des Abtes und der mit ihm verbündeten Reichsstädte 15. Mai 1403 bei Vögelinseck eine schimpfliche Niederlage bei; nicht besser erging es einer österreichischen Kriegsmacht am Stoß 17. Juni 1405. Hierauf streiften die Appenzeller in den Thurgau, über den Rhein, überall die Burgen der Herren brechend und die Bauern zum Aufstand ermunternd, und bildeten einen "Bund ob dem See", der sich mit reißender Schnelligkeit über die ganze Nordostschweiz und Vorarlberg bis nach Tirol hinein verbreitete. Eine Niederlage, welche sie 1408 bei Bregenz durch die schwäbische Ritterschaft erlitten, löste diesen Bund zwar wieder ebenso schnell auf, ihre Freiheit aber blieb gesichert. Im J. 1411 sagten ihnen die sieben Orte der Eidgenossen (ohne Bern) durch ein "Burg- und Landrecht" ihren Schirm zu und suchten ihre Pflichten gegen das Kloster in billiger Weise zu regeln. Allein die Appenzeller wollten von Verpflichtungen gegen den Abt nichts mehr wissen, selbst Bann und Interdikt blieben ohne Wirkung. Erst 1429 brachten die Eidgenossen einen Vergleich zu stande, wonach die Appenzeller die Entrichtung oder Ablösung der Zinsen und Gefälle verbürgten, während der Abt sich anheischig machte, ihnen den Blutbann und damit die politische Selbständigkeit zu verschaffen, was 1442 auch geschah. Im J. 1452 erlangte A. infolge seiner Teilnahme am alten Zürichkrieg eine höhere Stellung in der Eidgenossenschaft, und nach den Mailänder Feldzügen wurde es 17. Dez. 1513 zum vollberechtigten 13. Orte derselben erhoben. Die Reformation erregte anfänglich in A. keine heftigen Stürme; schon 1522 entschieden sich einzelne Gemeinden dafür, während andre, namentlich die der innern Roden (Bezirke), stets beim alten Glauben fort beharrten. Erst die Einführung des neuen Kalenders, die Aufnahme der Kapuziner im Hauptort und der Borromeische Bund entzündeten den Religionshaß in fanatischer Weise, bis nach zehnjährigen Wirren durch ein eidgenössisches Schiedsgericht 8. Sept. 1597 die Teilung des Landes in zwei selbständige Halbkantone beschlossen wurde, die jedoch in der Eidgenossenschaft nur als Ein Ort galten. Die Reformierten zogen nach den äußern Roden, wo sie schon die Mehrheit hatten, und die Katholiken nach den innern, welche sofort dem Borromeischen und Spanischen Bund beitraten. Anfang des 18. Jahrh. fand die Musselinfabrikation und -Stickerei in Außer-Roden Eingang und erhob es zu einem Hauptpunkt der Schweizer Industrie, während Inner-Roden seiner Hirtenbeschäftigung treu blieb. Durch die helvetische Verfassung wurden die beiden A. 1798 mit St. Gallen, Toggenburg und Rheinthal zu einem Kanton Säntis verschmolzen, durch die Mediationsakte aber 1803 mit ihren Landsgemeinden wiederhergestellt. Obwohl dem Sonderbund geneigt, nahm Inner-Roden keinen Anteil daran, entzog sich aber der Truppenstellung gegen denselben, wofür es 15,000 Fr. Buße zu zahlen hatte. Um aristokratischen Tendenzen der Regierungen zu begegnen, brachte Inner-Roden 1829 seine uralte Landsgemeindeverfassung in ein systematisches Grundgesetz, was Außer-Roden 1834 that. Letzteres trennte 1858 durch eine Verfassungsrevision die Justiz von der Verwaltung und verbesserte durch eine abermalige Revision, welche 15. Okt. 1876 von der Landsgemeinde genehmigt wurde, den Organismus der Behörden und das Steuerwesen. Inner-Roden revidierte seine Verfassung 24. Okt. 1872. Während Außer-Roden durch Annahme der Bundesverfassungen von 1848 und 1874 seinen eidgenössischen Sinn bethätigte, ist Inner-Roden der einzige Schweizerkanton, der seit 1848 konsequent alle Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Bundes verworfen hat. Vgl. Walser, Neue Appenzeller Chronik (2. Aufl., Ebnat 1825-28, 2 Bde.; fortgesetzt von Rüsch, Trogen 1831, 2 Bde.); Rüsch, Der Kanton A. historisch, geographisch und statistisch (neue Ausg., St. Gallen 1859); Zellweger, Geschichte des appenzellischen Volks (Trogen 1830-48, 6 Bde.); Derselbe, Der Kanton A., Land und Volk und dessen Geschichte (das. 1867).