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Arbeitergilden - Arbeitervereine.
und kirchlichen Charakter der A., sie fordern deshalb eine sehr weitgehende Beteiligung auch der Kirche an ihrer Lösung und verteidigen auch konfessionelle Arbeiterverbindungen; andre geben zwar den religiösen Charakter der A. zu, sehen aber doch die Frage nicht als eine konfessionell-kirchliche an, erachten die Mitwirkung der Kirche als solcher nur in geringerm Grad geboten und verwerfen konfessionelle Verbände; noch andre sehen in der A. gar keine kirchliche, sondern lediglich eine allgemein moralische Frage. Es sind in Deutschland vorzugsweise die orthodoxen Katholiken und Protestanten, welche den christlichen und kirchlichen Charakter der A. betonen, die erstern dem Programm des verstorbenen Bischofs v. Ketteler, der zuerst diese Stellung der Katholiken, resp. der katholischen Kirche zur A. präzisierte, folgend, die andern unter der Führung des preußischen Hofpredigers Stöcker. Während in jenem Punkte die Orthodoxen beider Konfessionen übereinstimmen, unterscheiden sie sich in einem andern wesentlichen Punkte: die Katholiken stellen sich, entsprechend dem Programm Kettelers, auf den Boden des Voluntarismus und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur dadurch von den liberalen Reformfreunden, daß diese mehr auf Gesichtspunkte des eignen Interesses der Arbeiter und der Humanität, sie mehr auf christlich-religiöse Gesichtspunkte sich stützen. Das Zentrum im Reichstag steht auch auf diesem Standpunkt, daher seine ablehnende Haltung gegen staatlich-soziale Organisationen. Stöcker dagegen und die von ihm 1878 gegründete und geleitete christlich-soziale Arbeiterpartei (1882 etwa 3-4000 Mitglieder, darunter aber nur wenige Arbeiter) fordern eine sehr weitgehende Staatshilfe; ja, das Programm derselben zeigt schon eine stark sozialistische Färbung, und es kann zweifelhaft sein, ob diese Partei nicht schon den Vertretern des Staatssozialismus zuzuzählen ist.
Die A. ist materiell ein nach Lohnklassen verschiedenes Problem. Man kann in dieser Hinsicht insbesondere drei Gruppen von Lohnarbeitern und danach auch drei verschiedene Arbeiterfragen unterscheiden: 1) Die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, die landwirtschaftliche A. Eine solche A. existiert in Deutschland wesentlich nur für die Lohnarbeiter auf großen Gütern und in Gegenden, wo diese weitaus überwiegen (s. über diese Frage den Art. Landwirtschaftliche Arbeiterfrage). 2) Die Lohnarbeiter im Kleingewerbe, die Handwerksgesellen. Die Verhältnisse dieser Arbeiterklasse sind nur in einem geringen Grad Anlaß und Gegenstand eines sozialen Problems; die Gesellenfrage tritt an Inhalt und Bedeutung weit hinter die beiden andern zurück (s. darüber den Art. Gesellen). 3) Die Lohnarbeiter in großen gewerblichen, insbesondere industriellen, Unternehmungen, die sogen. industrielle A. Sie umfaßt die eigentlichen Fabrikarbeiter, die hausindustriellen Arbeiter, die Lohnarbeiter in größern Handwerksunternehmungen, in Berg- und Hüttenwerken und Salinen (weiteres darüber im Art. Industrielle Arbeiterfrage). Die industrielle A. und die Gesellenfrage werden auch zusammen als gewerbliche A. bezeichnet.
Litteratur. Über die A. im allgemeinen: H. v. Scheel, Die Theorie der sozialen Frage (Jena 1871); Adolf Wagner, Rede über die soziale Frage etc. (Berl. 1872); G. Schönberg, Arbeitsämter (das. 1871); Derselbe, Die sittlich-religiöse Bedeutung der sozialen Frage (2. Aufl., Stuttg. 1876); Becher, Die A. etc. (Wien 1868); Böhmert, Der Sozialismus und die A. (Zür. 1872); M. Wirth, Beiträge zur sozialen Frage (Bd. 4 seiner "Grundzüge der Nationalökonomie", Köln 1873); Bamberger, Die A. (Stuttg. 1873); A. F. Lange, Die A. (4. Aufl., Winterth. 1879); v. Ketteler, Die A. und das Christentum (Mainz 1864); G. Ratzinger, Die Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen (Freib. i. Br. 1881); Schäffle, Sozialismus und Kommunismus (Tübing. 1870); Brentano, Die gewerbliche A. (in Schönbergs "Handbuch der politischen Ökonomie", Bd. 1, S. 905 ff., das. 1882; dort auch weitere Litteratur); Derselbe, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht (Leipz. 1877); G. Schmoller, Die soziale Frage und der preußische Staat ("Preußische Jahrbücher", Bd. 23, Berl. 1874); R. Meyer, Der Emanzipationskampf des vierten Standes (das. 1874-75, 2 Bde.); Hitze, Die soziale Frage etc. (Paderb. 1877); Derselbe, Kapital und Arbeit etc. (das. 1881). - Über die verschiedenen Richtungen in der A.: v. Scheel, Unsre sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Brentano in Schönbergs "Handbuch der politischen Ökonomie", Bd. 1, S. 929 ff.; dort auch weitere Litteratur. Speziell über die individualistische Richtung: G. Schönberg, Die deutsche Freihandelspartei etc. ("Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft", Bd. 29, Tübing. 1873); G. Schmoller, über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft (Jena 1875); H. v. Treitschke, Der Sozialismus und seine Gönner (Berl. 1875); H. B. Oppenheim, Der Kathedersozialismus (das. 1872); Adolf Wagner, Offener Brief an Herrn H. B. Oppenheim (das. 1872); Stöcker, Christlich-sozial (Bielef. u. Leipz. 1885). Über die sozialistische Richtung s. Sozialismus.
Arbeitergilden, s. Gewerkvereine.
Arbeiterkolonien, s. Armenkolonien.
Arbeiterparteien, s. Arbeiterfrage.
Arbeiterschaften, s. Gewerkvereine.
Arbeitervereine. Unter Arbeitervereinen versteht man die besondern Vereine, welche ausschließlich oder doch wesentlich aus Lohnarbeitern bestehen und welche nicht einen Spezialzweck (wie Konsumvereine, Produktivgenossenschaften, Baugenossenschaften, Krankenkassen etc.) sondern allgemeine Zwecke im Interesse ihrer Mitglieder verfolgen. Die Hauptarten dieser A. sind: 1) Bildungsvereine. Diese A. umfassen Arbeiter verschiedener Produktionszweige und beschränken sich darauf, die allgemeine Bildung und die gute Sitte unter ihren Mitgliedern durch Vorträge, Besprechungen, Unterricht, Bibliothek, Lesezimmer, geselligen Verkehr zu befördern und durch gesellige Zusammenkünfte und gemeinsame Vergnügungen, an denen auch die Angehörigen der Mitglieder teilnehmen, zur Erheiterung und Verschönerung des Lebens der Arbeiter beizutragen. Solche Vereine sind in den letzten Jahrzehnten in allen Kulturstaaten, namentlich auch in Deutschland, in großer Zahl entstanden, und sie verdienen die allseitigste Unterstützung. Zu ihnen gehören auch die in Deutschland in dem letzten Jahrzehnt sehr verbreiteten "katholischen Gesellenvereine". Weiteres s. Bildungsvereine. 2) Gewerkvereine nach dem Muster der englischen Trades' unions. Gewerkvereine sind Landesvereine von Lohnarbeitern eines bestimmten Gewerks zur Förderung der gesamten ökonomischen und sozialen Interessen der Lohnarbeiter dieses Gewerks. Sie sind die notwendigen korporativen Gebilde der Lohnarbeiter für die Lösung der industriellen Arbeiterfrage (s. Industrielle Arbeiterfrage und Gewerkvereine). 3) Politische A. Es sind allgemeine A., die in erster Reihe Agitationsvereine für politische Forde-^[folgende Seite]