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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Aristotelische Philosophie

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Aristotelische Philosophie.

schlummernden) Welt. Daher ist der thätige Geist auch nur einer für alle, während der Geist als leidender jedem für sich eigen ist; weshalb unter den Schülern des Aristoteles Streit darüber entstehen konnte, ob er die menschliche Seele für sterblich oder für unsterblich erklärt habe. Als leidender Geist nämlich ist sie der Entwickelung (aus bloßer Anlage zur Vollendung) unterworfen, folglich (da alle Entwickelung Materialität voraussetzt) nicht immateriell, also auch nicht unvergänglich; als thätiger Geist aber kommt sie "von außen" an den natürlichen Menschen und ist trennbar von ihm, also zwar unvergänglich, aber nicht mit dem Individuum Eins, sondern eine für alle, wie der Beweger einer für die gesamten Bewegungen. Indem die denkende Seele im Menschen infolge der Erregung durch den thätigen Geist aus bloßer Vernunftanlage zur wirklichen Vernünftigkeit sich erhebt, wird sie der Gottheit, die ganz Vernunft ist, ähnlich, aber nicht gleich, da sie im Menschen noch mit der tierischen und pflanzlichen Seele verbunden ist, die sie nicht abzustreifen vermag; der Philosoph, dessen denkende Seele am stärksten entwickelt ist, ist der Gottheit am ähnlichsten. Der ganze Mensch, der neben der "göttlichen" auch noch die sinnliche (tierische und pflanzliche) Seele besitzt, ist daher weder (wie das Tier) ein bloßes Sinnenwesen noch (wie Gott) ein reines Vernunftwesen, sondern aus beiden gemischt ein sinnlich-vernünftiges Wesen nicht nur seiner Anlage, sondern, da er als Entelechie seinen Zweck in derselben vorgezeichnet trägt, auch seiner Bestimmung nach, welche darin besteht, diese seine Anlage zur Wirklichkeit herauszubilden. Auch er birgt die Tugend (nach dem überall wiederkehrenden Grundgedanken des Systems), die er werden soll, bereits im Keim in sich, wie das Ei das Huhn und das Samenkorn die Pflanze. Sollizitierend wirkt dabei der von außen kommende Reiz von seinesgleichen, Erziehung und Beispiel, da er als "geselliges Tier" nicht nur in Gesellung mit andern lebt, sondern in dieser Anlage zur Geselligkeit zugleich den Keim der künftigen vernünftigen Gemeinschaft, des Staats, trägt. Dabei verhält sich der physische zu dem vernünftigen Bestandteil der sittlichen Anlage des Menschen wie Materie zur Form (in jedem Wirklichen) und ist die aus dieser sich entwickelnde wirkliche Sittlichkeit desto vollkommener, je mehr die bloße natürliche Beschaffenheit (Materie der Sittlichkeit) von der vernünftigen (Form der Sittlichkeit, sittliche Einsicht) gelenkt und durchdrungen wird. Wie aber nach des Aristoteles der organischen Naturbeobachtung entlehntem Grundsatz alles organische Wachstum allmählich durch Nahrung und Pflege, so erfolgt auch die Ausreifung der sittlichen Anlage zu wirklicher Sittlichkeit nur langsam durch Übung und Gewohnheit, wenn die letztere wirklich zum bleibenden Charakter, zur andern Natur (hexis) werden soll. In dieser aber, welche die vollkommene Erfüllung der tugendhaften Anlage, die tugendhafte Thätigkeit der Seele selbst ist, besteht auch deren Glückseligkeit oder das höchste Gut, welches allerdings leibliche und äußere Güter als Stützen und Förderungsmittel vernünftiger Thätigkeit (z. B. Gesundheit, Vermögen, Ansehen etc.) nicht aus-, sondern einschließt. Wohlbefinden, Lust, ist dabei nicht sowohl Zweck als vielmehr natürliche unausbleibliche Folge, weil Rückwirkung jeder naturgemäßen Thätigkeit auf den Thätigen selbst. Naturgemäß aber ist nur jene Thätigkeit, die weder ein Zuviel noch ein Zuwenig in sich schließt, daher Aristoteles die Tugend als das Mittlere zwischen zwei Gegensätzen (z. B. Sparsamkeit als die richtige Mitte zwischen Geiz und Verschwendung) definiert. Derselbe Gedanke liegt auch seiner "Poetik", wo er das Schöne als das weder zu Große noch zu Kleine, wie seiner "Politik" zu Grunde, in der er die mittlere Verfassung, d. h. die Herrschaft des Mittelstands, für die beste erklärt. In beiden kehrt auch der Aristotelische Hauptgedanke, der Gegensatz zwischen Anlage und Vollendung und dessen Vermittelung durch die Entwickelung der erstern, wieder und zwar in der Lehre von der dramatischen Dichtkunst, in welcher er den Nachdruck auf die Beschaffenheit der Fabel und der handelnden Charaktere als der Anlage der künftigen dramatischen Handlung legt, in der Verfassungslehre, indem er auf die historisch, geographisch und ethnographisch gegebenen Umstände und Voraussetzungen der Staatenbildung als Anlage der künftigen Staatsverfassung hinweist. Gleicher Denkrichtung entsprang des Aristoteles "Logik", die er als Schlußlehre auffaßt, indem in den Vordersätzen der Schlußsatz der Anlage nach bereits gegeben und der wirkliche Schlußsatz nur die Entfaltung des in den Vordersätzen keimartig Enthaltenen durch wirkliches Folgern sei; sowie anderseits wieder die Beweisgründe das zu Beweisende unausgewickelt in sich tragen, wie die verursachende Bewegung die von ihr verursachte, und auf einen selbst unbeweisbaren Anfang alles Beweisens (Grundsatz, Axiom, Prinzip) wie jene auf den selbst unbewegten Anfang aller Bewegung zurückdeuten. Die Identität des (Einen) thätigen Geistes, des Urhebers alles wirklichen (aus dem Schlummer geweckten) Denkens und des ersten Bewegers als der (Einen) Ursache aller wirklichen (aus dem bloßen Vermögen in That übergegangenen) Bewegung, in Gott schließt den gewaltigen Ring, der von der Gottheit zum Fixsternhimmel, von diesem durch die planetarische Region zur Erde hinab und durch die aufsteigende Stufenfolge der unorganischen und organischen Natur durch Stern, Pflanze, Tier und Mensch von des letztgenannten leidender zur thätigen Vernunft, d. h. wieder zur Gottheit, emporführt.

[Geschichte der Aristotelischen Philosophie.] Die Philosophie des Aristoteles wurde zunächst durch dessen Schule, welche die peripatetische hieß und ihren Sitz im Lykeion hatte, fortgepflanzt; der Einfluß derselben aber erstreckt sich durch das gesamte nacharistotelische Altertum, das Mittelalter und bis auf die neueste Zeit herab, wo sie namentlich von Trendelenburg in erneuerter Gestalt wieder aufgenommen worden ist. Unter den unmittelbaren Schülern des Aristoteles waren Theophrastos von Eresos auf der Insel Lesbos, Eudemos von Rhodus, Aristoxenos, welcher die Aristotelische Lehre von der Erkenntnis auf die Musik anwandte, und Dikäarchos von Messene, welcher die Geographie in den wissenschaftlichen Kreis des Peripatetismus einführte, die bedeutendsten. Der Schüler und Nachfolger des Theophrast, Straton von Lampsakos, sonderte zuerst die Erfahrungswissenschaften über die Natur von der Philosophie ab und faßte jene als das Material, diese als die Ergebnisse der Erfahrung wissenschaftlich auf. Neben ihm ist Demetrios aus Phaleron bei Athen zu nennen. Die Nachfolger des Straton im Lykeion waren der Reihe nach: Lykon aus Troas, Ariston von Keos, Kritolaos aus Phaselis, der zu der rein Aristotelischen Lehre zurückkehrte, und Diodoros von Tyros, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrh.