Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Austern

142

Austern (als Genußmittel).

aus natürlichen oder künstlichen Bänken herbeiführt. So verpflanzte man nach Arcachon 15 Mill. A. von natürlichen Bänken und verkaufte 1860-65: 65 Mill., 1880 sogar 195 Mill. A. aus 4260 Zuchtparken. Dieser bedeutende Ertrag ist vor allem der Sorgfalt, mit welcher man die jungen A. vor zu großem Temperaturwechsel und den Angriffen andrer Tiere schützt, zu verdanken. Es befanden sich aber 1869 von den vielen Austernparken an den französischen Küsten nur noch zehn im Betrieb; ja, auch in Arcachon fürchtet man neuerdings die Konkurrenz der allerdings nicht so feinen portugiesischen Auster, welche sich an der Mündung der Gironde von selbst angesiedelt hat und schon 1880 in Anzahl von 40 Mill. exportiert wurde. In gleicher Weise sind die in den 60er Jahren unternommenen Züchtungen an der englischen Küste so wenig rentabel gewesen, daß sie jetzt wohl als aufgegeben betrachtet werden können. In den deutschen Meeren hat es sich durch Versuche in kleinem Maßstab herausgestellt, daß eigentliche Austernparke ebensowenig Fortkommen haben, wie es gelingt, Austernbänke anzulegen oder die vorhandenen um einen nennenswerten Betrag zu vergrößern. Es empfiehlt sich daher lediglich die an der schleswigschen Küste bereits übliche Reinigung der natürlichen Bänke von Schlamm, Pflanzen und schädlichen Tieren, Bestreuung mit Austern- oder Muschelschalen, um das Ansammeln von Brut zu befördern, und zeitweise Schonung. Auch lassen sich Vorratsanstalten, welche gleichzeitig eine Verbesserung des Geschmacks der A. herbeiführen mögen, mit Erfolg betreiben.

Die Auster ist eins der bekanntesten und beliebtesten Genußmittel; ihre Verächter sind selten. Ihren ganzen Wohlgeschmack empfindet aber nur derjenige, welcher sie langsam schlürft, zerbeißt und kaut. Das Beträufeln mit Zitronensaft verdeckt den wirklichen Austergeschmack und macht sie außerdem unverdaulich. Ebenso verwerflich erscheint das Bestreuen mit Pfeffer oder die in einigen Gegenden Frankreichs übliche Zubereitungsweise mit einer aus Weinessig, Pfeffer und zerriebenem Lauch zusammengesetzten Sauce. Zu den A. pflegt man Wein zu trinken. Als Austerwein wurden in der Regel Chablis und überhaupt weiße Burgunder bezeichnet. Weit empfehlenswerter aber sind zu diesem Zweck die weißen Weine der Gironde oder moussierender St.-Peray. In Deutschland treten jetzt vielfach an deren Stelle weiße Rhein- und namentlich Moselweine und Champagner oder nach englischer Sitte Porter oder Ale. Dagegen muß die Liebhaberei der Holländer, Genever oder überhaupt Schnaps zu den A. zu trinken, als geschmacklos und schädlich verworfen werden. Während der Monate ohne r, also vom Mai bis September, sollten A. niemals genossen werden. Zu dieser Zeit sind sie mager und unschmackhaft, ganz abgesehen davon, daß sie während der warmen Jahreszeit dem raschen Verderben ausgesetzt und daher nur mit Vorsicht zu genießen sind. Die Auster wird sowohl roh (frisch) als zubereitet genossen. Früher wurde die frische Auster bei der Hauptmahlzeit des Tags, dem Mittagsessen, als Vorspeise gereicht. Schon Plinius bezeichnet sie als das Hauptgericht. Im allgemeinen erschienen die A. bei den Römern wegen ihrer appetitreizenden Eigenschaft im ersten Hauptgang der Coena oder bei der dieser vorangehenden Kollation (antecoena). Auch in Frankreich bildete die Auster bis zu den Zeiten des letzten Ludwig die Einleitung des ersten Ganges der Mahlzeit. In Deutschland herrscht diese Sitte noch, doch gehen unbestreitbare Autoritäten, wie z. B. Malortie, von der Ansicht aus, daß die frische, unzubereitete Auster überhaupt nicht in das Menü der Mittagstafel gehöre, sondern sich vielmehr für das Frühstück oder die Abendmahlzeit empfehle. Auch in der Praxis hat diese Aufsagung schon vielfach Eingang gefunden. Anders freilich liegen die Dinge bei der zubereiteten Auster. Seit langer Zeit hat sich die Kochkunst der Auster bemächtigt. Schon im 17. Jahrh. kommen Austernsuppen vor. Grimod de la Reynière führt eine ganze Reihe von Austernspeisen auf. Auf der Tafel der Gegenwart erscheinen sie gebacken (frites) oder gedämpft (sautées), namentlich aber als Beigabe zu Ragouts und Saucen. Noch größer ist das Herrschaftsgebiet der zubereiteten Auster in der englischen Küche. Dort treten Austernsuppen und Austernpasteten in den Vordergrund. In Amerika ist die Auster ein National- und billiges Volksgericht.

An Nährwert stehen die A. den bessern Fleischsorten wenigstens gleich. Eine Auster ohne Schale hat im Durchschnitt etwa 10 g Lebendgewicht, enthält aber nur 21,5-23 Proz. feste Stoffe. Bei dem Preis von 2 Mk. das Dutzend sind sie daher mindestens sechsmal so teuer wie bestes Rindfleisch. Worauf es beruht, daß sich zuweilen nach dem Genuß von A. Vergiftungserscheinungen (Kolik) einstellen, ist noch nicht aufgeklärt. Am besten schmecken die A., wenn sie unmittelbar vorher gefangen wurden. Geübte Esser erkennen die mit Eiern trächtigen A. am zartern Geschmack. Einen bedeutenden Handelsartikel, namentlich von Amerika aus, bilden auch die gekochten A. in Blechbüchsen. Als "Natives" gehen bei uns alle englischen und Ostender A. von einem gewissen kleinen Format; alle nordischen A. heißen bei uns Holsteiner; es sind dies meist große Tiere mit dicker, plumper Schale, während die besten Holsteiner oder vielmehr Schleswiger A. ziemlich dünnschalig sind; die dickschaligen sind Helgoländer, Norweger, Friesen oder Schotten. Der Verbrauch von A. wechselt ungemein. So konsumierte Paris 1852: 78 Mill., 1858: 57 Mill., 1868 nur 26 Mill. Die Preise schwankten von 2¼-7½ Frank das Hundert. Im J. 1876 verkaufte Frankreich 330 Mill. (für 13 Mill. Fr.), während es 1866 nicht einmal den Bedarf seiner Hauptstadt decken konnte. London allein verzehrt gegenwärtig etwa 800 Mill. A. Der Konsum von ganz England repräsentiert einen Wert von 80-100 Mill. Mk. ("Natives" das Dutzend zuweilen 4 Mk.). Eine Tonne (700-800 Stück) Schleswiger A. wurde 1875-76 an Händler für 105 Mk. verkauft. In Nordamerika bilden die A. ein wirkliches Volksnahrungsmittel; man schätzt dort den Verbrauch im eignen Land auf 9-12 Milliarden A. Von Baltimore namentlich wird Europa sowohl als Südamerika, Kalifornien und Australien mit frischen und in Büchsen konservierten A. versorgt.

Die Austernschalen bestehen im wesentlichen aus kohlensaurem Kalk mit einer organischen Substanz (Conchiolin). Gereinigt, ausgekocht und gepulvert, sind sie als Conchae praeparatae (präparierte Austernschalen) offizinell und dienen gegen Magensäure, als Zahnpulver und in neuerer Zeit in viel größerer Menge als Putzpulver. Wo Austernschalen in großen Massen vorkommen, werden sie zu Kalk gebrannt; auch dienen sie zur Ausbesserung der Austernbänke.

Vgl. Coste, Voyage d'exploration sur le littoral de la France et de l'Italie (2. Aufl., Par. 1861); Broca, Études sur l'industrie huîtrière des États-Unis (2. Aufl., das. 1865); Bertram, The harvest of the sea (3. Aufl., Lond. 1873); De la Blanchère, La culture des plages maritimes etc. (Par. 1866);