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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bern

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Bern (Kanton).

quer über fast die ganze Breite der Schweiz ausgedehnt, erstreckt sich über alle vier Terrainzonen: Hochalpen, Voralpen, Ebene und Jura, vergleichbar einem Sitz mit ungleich hohen Seitenlehnen. Steigt die alpine Lehne, das Berner Oberland, bis zum Grate des Hochgebirges hinauf (s. Berner Alpen), so erhebt sich die jurassische zu geringerer Höhe, aber zu einem nicht weniger ausgedehnten Bergland (Leberberg oder Berner Jura), jenseit dessen selbst noch ein Fetzen, das Pays d'Ajoie (Elsgau, um Pruntrut), zu den Ebenen des Oberelsaß niedersteigt, durch den Bergrücken des Repais von dem übrigen Kantonsgebiet abgetrennt. Rechts und links vom Aarethal treten voralpine Bergländer zur Ebene hinaus: Ober-Emmenthal und Schwarzenburg, so daß das Flachland sich auf Oberaargau (um Langenthal), das Mittelland (um Bern) und Seeland (um Biel) beschränkt. Aus dem Mittelland, bei Bern, ragen die Hügelmassen des Gurten (861 m) und des Bantiger Hubels (950 m) empor. Der Leberberg, abgesehen von dem transjurassischen Elsgau, besteht aus dem Val St.-Imier, dem Birsthal und den Franches Montagnes (Freibergen). Letztere umfassen die plateauartigen Höhen, zu deren Besiedelung der ehemalige Souverän, der Baseler Bischof Imer von Ramstein (1384), durch Erteilung von Freiheiten aufmunterte (um Saignelégier). Ebenso verschieden wie die Landschaften ist die Bevölkerung, die 1880: 532,164 Seelen (77 auf 1 qkm) zählte, nach Sprache und Konfession wie nach besondern Charakterzügen. Die Jurassier sind großenteils französisch (78,640), die Bewohner des alten Kantonteils deutsch, jene meist katholisch (65,828 Seelen, zur Diözese Basel-Solothurn gehörig), diese reformiert (463,163 Seelen). Dazu kommen über 1300 Juden. Die Bauernschaft des Mittellandes ist der Kern des Landes, sehr wohlhabend, aber auch stolz. Fleiß und Sparsamkeit, teilweise verbunden mit der Gunst großer Güterkomplexe (durch das Minorat), haben sie zu solcher Blüte erhoben. Der deutsche Berner hat eine zähe, kühle Natur, ist kräftig, derb, schwerfällig, behaglich und phlegmatisch, von mäßiger Intelligenz. Der Jurassier und auch der weinbauende Seeländer sind weit beweglicher und leidenschaftlicher und nähern sich dem französischen Charakter. Die Bevölkerung des Oberlandes, von Natur ein gutmütiger, intelligenter, hübscher und kräftiger Schlag, zeigt heutzutage mehrfache schlimme Einwirkungen des ungemein starken Fremdenbesuchs: der Reisende klagt über Zudringlichkeit und Bettelei, über teure Preise und Übervorteilung, und man bedauert, daß Arbeitsscheu und Genußsucht überhandnehmen.

Der bernische Feldbau hat seinen Hauptsitz in der Hochebene, erzeugt aber nicht genug Getreide. In neuerer Zeit wird die Hebung des Obstbaues, behufs Bekämpfung der Branntweinpest, kräftig angestrebt. Wein, fast nur im Seeland gebaut, ist einzuführen (meist aus der Waadt). Die Wälder sind kaum mehr ausreichend; selbst im Jura, der zwar immer noch Holz zur Ausfuhr bringt, sind die Waldungen sehr gelichtet, noch mehr im Oberland. Viel Rindvieh, von schönstem Schlag (Fleckvieh) im Simmenthal (Erlenbacher Schlag), im Saanenland, im Frutigen- und Emmenthal. Die Alpen des Simmen- und des Emmenthals sind sorgfältig bewirtschaftet. Die fetten Emmenthaler Käse werden in Langnau aufgestapelt und selbst die ähnlichen Käse der Nachbargebiete angekauft, um von diesem Platz aus in die weite Welt zu wandern. Das Haslithal hat seine eigne Rasse Braunvieh, welches dem Unterwaldner am nächsten kommt. Im Flachland gibt es viel Viehmast. Pferdezucht wird am stärksten in den Freibergen und im Simmenthal (Erlenbach) betrieben; daneben züchtet man sehr viele Schweine, Ziegen und Schafe (s. Frutigen). Auf dem jurassischen Gebiet findet Bergbau auf Eisen statt (s. Délémont). Treffliche Sandsteine finden sich bei Ostermundingen (s. d.), Kalk und Gips sowohl in den Voralpen als im Jura, Thonschiefer am Niesen (Mühlenen). Granit liefern die erratischen Blöcke. Im Seeland gräbt man auch Torf. Berühmte Heilquellen sind zu Rosenlaui, Gurnigel, Lenk, Weißenburg und Blumenstein. Im alten Kantonsteil sind von Bedeutung die Leinenindustrie des Mittellandes, die Baumwollindustrie des Oberaargaus, die Tuchweberei (s. Frutigen), die Parkettfabrikation von Interlaken und die Holzschnitzerei des Oberlandes (s. Brienz); im neuen hingegen die Uhrmacherei (Val St.-Imier, Biel u. a.) und die Seidenweberei (s. Basel), örtlich auch Glasfabrikation, Töpferei etc. Das "Pruntruter Geschirr" aus dem Ort Bonfol, roh von Form, plump und schwer, ist wegen seiner Feuerbeständigkeit beliebt. Größere Handelsgeschäfte knüpfen sich an einige Zweige der Urproduktion und Industrie sowie an einige Geldinstitute der Hauptstadt; aber im ganzen tritt der Handel gegen die übrigen Erwerbsarten zurück. Eine mächtige Erwerbsquelle bildet der Touristenzug im Oberland; Hotels, Pensionen, Transportmittel, Führer, Träger etc. haben allsommerlich ihre goldene Saison. Ist für dieses Treiben Interlaken der Lieblingsplatz, so verleiht es auch dem Schlüsselpunkt des Oberlandes (s. Thun) ein bewegteres Leben und verzweigt sich in die Bergthäler, die in frühern Jahrhunderten ein sehr abgeschiedenes Stillleben genossen. Mittelschulen, humanistische und realistische, existieren zu Bern, in Pruntrut, Burgdorf und Biel. Das deutsche Lehrerseminar befindet sich in Münchenbuchsee, das französische in Pruntrut, Seminare für Lehrerinnen in Bern, Hindelbank und Délémont. Das Volksschulwesen, das allgemeine (primäre) und das fakultative (sekundäre), gehört zu den entwickeltsten der Schweiz. Es gibt mehrere öffentliche Bibliotheken in Bern (s. unten), ferner die Stadtbibliothek von Burgdorf (11,000 Bände) und die Bibliothèque de l'école cantonale in Pruntrut (Porrentruy, 14,000 Bände).

Zufolge der noch in Kraft bestehenden Verfassung vom 13. Juli 1846 bildet der Kanton B. einen demokratischen Freistaat und ein Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Die Souveränität ruht in der Gesamtheit des Volkes. Es übt sie teils unmittelbar (seit 1869 auch durch das Referendum), teils mittelbar durch die verfassungsmäßigen Behörden. Die Verfassung garantiert die in den schweizerischen Republiken üblichen Grundrechte, enthält Periodizität der Beamtungen (seit 1870, resp. 1874 auch der geistlichen und Lehrerstellen), erklärt den Primärunterricht für obligatorisch, verpflichtet den Staat, für den Unterricht zu sorgen, und macht die Niederlassung und Lehrthätigkeit kantonsfremder religiöser Korporationen von der Bewilligung der gesetzgebenden Behörde abhängig. Dem neuen Kantonsteil sind eine besondere Armengesetzgebung sowie die französischen Zivil-, Handels- und Strafgesetzbücher garantiert. Deutsch und Französisch sind als Landessprachen anerkannt. 8000 Bürger können die Revision der Verfassung verlangen. Die höchste Staatsbehörde ist der Große Rat. Ihm stehen die Legislative, die Oberaufsicht über die gesamte Staatsverwaltung sowie die Wahl gewisser Beamten und Behörden zu. Er wird durch die Wahlversammlung der Wahlkreise, je ein Mitglied auf 2000