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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Reichskanzler und Reichsbehörden).

Mitglieder anwesend sei (also 199 Abgeordnete). Der Reichstag wählt sein Büreau, entscheidet über die Legitimation seiner Mitglieder; auch hat er das Recht, seinerseits Gesetze innerhalb der Kompetenz des Reichs vorzuschlagen. Der Reichstag regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin selbst in der von ihm beschlossenen, 10. Febr. 1876 revidierten Geschäftsordnung.

Was den andern gesetzgebenden Faktor des Reichs, den Bundesrat (Art. 6 ff.), anbetrifft, so ist dessen Stellung um deswillen eine eigenartige, weil er nicht nur den Charakter eines gesetzgebenden Körpers, sondern zugleich auch denjenigen eines Regierungskollegiums und einer verwaltenden und ausführenden Stelle hat. Aber auch in seiner Eigenschaft als gesetzgebendes Organ des Reichs hat der Bundesrat doch nicht denjenigen Charakter, wie er einem Oberhaus oder der Ersten Kammer in den Staaten mit Zweikammersystem innewohnt. Denn die Mitglieder des Bundesrats haben in Gemäßheit der Instruktionen zu stimmen, welche ihnen ihre Regierungen, deren Mandatare sie sind, erteilten. Zugleich hat der Bundesrat über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen zu beschließen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas andres bestimmt ist, desgleichen über Mängel, welche bei Ausführung der Reichsgesetze oder solcher Vorschriften und Einrichtungen hervortreten. Wie die Minister der Einzelstaaten in den Kammern die Regierung vertreten, so haben auch die Mitglieder des Bundesrats das Recht, jederzeit im Reichstag zu erscheinen und die Ansichten ihrer Regierungen zu vertreten, selbst dann, wenn dieselben von der Mehrheit des Bundesrats nicht angenommen worden sind. Dem Kaiser liegt es ob, den Mitgliedern des Bundesrats den üblichen diplomatischen Schutz zu gewähren. Die erforderlichen Vorlagen für den Reichstag werden nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundesrats im Namen des Kaisers an die Volksvertretung gebracht, wo sie durch Mitglieder des Bundesrats oder durch besondere von letzterm zu ernennende Kommissarien vertreten werden (Art. 16). Im Bundesrat werden 58 Stimmen abgegeben, von denen auf Preußen 17, Bayern 6, Sachsen 4, Württemberg 4, Baden 3, Hessen 3, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je 2 kommen und je 1 auf Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck; Reuß ä. L., Reuß j. L., Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg. Elsaß-Lothringen ist im Bundesrat durch stimmberechtigte Bevollmächtigte nicht vertreten, doch können von dem Statthalter zur Vertretung von Vorlagen aus dem Bereich der dortigen Landesgesetzgebung und zur Wahrung der Interessen der Reichslande Kommissarien abgeordnet werden. Zur Beschlußfassung ist die einfache Majorität nötig, bei Stimmengleichheit entscheidet die Präsidialstimme. Der Bundesrat bildet aus seiner Mitte dauernde Ausschüsse für das Landheer und die Festungen, für das Seewesen, für Zoll- und Steuerwesen, für Handel und Verkehr, für Eisenbahnen, Post und Telegraphen, für Justiz-, für Rechnungswesen, für die auswärtigen Angelegenheiten, für Elsaß-Lothringen, für die Verfassung und für die Geschäftsordnung. In jedem dieser Ausschüsse müssen außer dem Präsidium mindestens vier Bundesstaaten vertreten sein, und jeder Staat führt innerhalb derselben nur eine Stimme. Der Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten wird aus den Bevollmächtigen der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg und zwei vom Bundesrat alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten andrer Bundesstaaten unter dem Vorsitz Bayerns gebildet. In dem Ausschuß für das Landheer und die Festungen hat Bayern einen ständigen Sitz, die übrigen Mitglieder desselben sowie die Mitglieder des Ausschusses für das Seewesen werden vom Kaiser ernannt; die Mitglieder der andern Ausschüsse werden von dem Bundesrat gewählt. Die Zusammensetzung dieser Ausschüsse ist für jede Session des Bundesrats, resp. mit jedem Jahr zu erneuern, wobei die ausscheidenden Mitglieder wieder wählbar sind. Jedes Bundesglied kann Vorschläge machen, die das Präsidium zur Beratung im Bundesrat stellen muß. Niemand kann gleichzeitig Mitglied des Reichstags und des Bundesrats sein. Der Bundesrat muß, ebenso wie der Reichstag, alljährlich berufen werden. Er kann zur Vorbereitung der Arbeiten ohne den Reichstag, letzterer aber nicht ohne den Bundesrat berufen werden. Die Berufung des Bundesrats muß erfolgen, sobald sie von einem Drittel der Stimmenzahl verlangt wird. Der Geschäftsgang ist im einzelnen durch die Geschäftsordnung vom 26. April 1880 geregelt (s. Bundesrat).

Daß D. nunmehr einen wirklichen Gesamtstaat bildet, und daß dieser Staat einen konstitutionell-monarchischen Charakter hat, wenn auch nicht allenthalben ausgeprägt und streng durchgeführt, zeigt sich ferner auch in der verfassungsmäßigen Stellung des Reichskanzlers. Denn dieser ist der politisch verantwortliche Minister des Reichs. Von einem solchen konnte in dem frühern Staatenbund nicht die Rede sein, weil es an dem Repräsentanten einer einheitlichen Staatsgewalt fehlte, dem ein solcher Minister hätte zur Seite stehen können. Der Reichskanzler ist das vollziehende Organ der Reichsgewalt. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers, welche im Namen des Reichs erlassen werden, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Auf diese Weise ist die Verwaltung des Reichs streng zentralistisch durchgeführt. Das Reich hat nur einen einzigen verantwortlichen Minister, welcher für jeden Zweig der Reichsverwaltung der oberste Chef ist. Sämtliche Vorstände der einzelnen Reichsämter sind dem Reichskanzler untergeordnet. Das Streben, ein verantwortliches Reichsministerium ins Leben zu rufen mit verantwortlichen Fachministern oder (Antrag Bennigsen) verantwortlichen Vorständen der einzelnen Verwaltungszweige, ein Streben, welches in der Volksvertretung wiederholt zum Ausdruck kam, war bisher ein vergebliches. Ein Anlauf dazu ist allerdings in dem sogen. Stellvertretungsgesetz (vom 17. März 1878) zu erblicken, wonach nicht nur ein Reichsvizekanzler ernannt werden kann, sondern auch für diejenigen Amtszweige, welche sich in der eignen und unmittelbaren Verwaltung des Reichs befinden, die Vorstände der obersten Reichsbehörden mit der Stellvertretung des Kanzlers im ganzen Umfang oder in einzelnen Teilen ihres Geschäftskreises beauftragt werden können. Der Behördenorganismus des Reichs selbst ist mit der Zeit ein sehr komplizierter geworden (s. Reichsbehörden), ohne daß jedoch das Organisationswerk bereits zum Abschluß gekommen wäre, sowenig wie der innere Ausbau des Reichs ein abgeschlossener und vollendeter ist. Zur Besorgung der auswärtigen Angelegenheiten war ursprünglich das preußische Ministerium des Auswärtigen herangezogen worden, während die Militärverwaltung im wesentlichen durch