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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1871-1874).

baren Wetteifer Gutes und Edles stiften. Nach mehr als 200jährigen Mühen und Kämpfen war D. wieder Herr seiner selbst und seiner Geschicke und auf einer Stufe geistiger und materieller Entwickelung, welche es in die Reihe der führenden Kulturstaaten stellte.

Neueste Zeit.

Nachdem das Deutsche Reich begründet war, galt es, dasselbe weiter auszugestalten. Dieser Aufgabe unterzog sich der Reichskanzler mit gewohnter Thatkraft, und der Reichstag unterstützte ihn bereitwilligst. In seiner Herbstsession 1871 genehmigte er die Gründung eines Reichskriegsschatzes von 40 Mill. und bewilligte für den Militäretat auf drei Jahre ein Pauschquantum von je 90 Mill. Thlr. (225 Thlr. für einen Soldaten). Über die Verteilung der französischen Kriegsentschädigung, welche wider Erwarten rasch abgezahlt wurde, insgesamt 4219 Mill. Mk., wurde 1872 und 1873 Beschluß gefaßt. Die wiederzuerstattenden Kriegs- und Retablissementskosten wurden auf 1856 Mill. Mk. festgesetzt, die Entschädigungen für Verluste infolge des Kriegs und die Belohnungen auf 822 Mill. (davon betrugen der Invalidenfonds 560 Mill. und die Dotationen 12 Mill.), die Ausgaben für Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit des Reichs (Festungsbaufonds, Reichskriegsschatz, Kriegsmarine etc.) auf 790 Mill., für allgemeine Reichszwecke (Reichstagsgebäude u. dgl.) auf 62 Mill.; die übrigen 708 Mill. wurden den einzelnen Staaten überwiesen. Die Münzreform wurde durch das Gesetz vom 24. Jan. 1873 zum Abschluß gebracht. Der Antrag auf Erweiterung der Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche und Strafrecht sowie das gerichtliche Verfahren, welchen Lasker schon 1871 eingebracht hatte, gegen den aber die süddeutschen Königreiche Widerstand leisteten, wurde 1873 auch von der Reichsregierung angenommen. Ferner wurde ein Reichseisenbahnamt eingerichtet und die deutsche Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen eingeführt, das nun 15 Abgeordnete in den Reichstag sandte.

Die auswärtige Politik entsprach durchaus den wiederholten Versicherungen der Thronreden, daß D. als höchstes Ziel die Aufrechterhaltung des Friedens erstrebe. Die vielfachen Herausforderungen der revanchelustigen Franzosen blieben unbeachtet. Das Reich bemühte sich dagegen, seine Stellung durch freundschaftliche Beziehungen zu den benachbarten Kaiserreichen zu befestigen. Dies gelang durch die Dreikaiserzusammenkunft, welche 5.-12. Sept. 1872 in Berlin stattfand. Alexander II. von Rußland und Franz Joseph von Österreich waren von ihren Ministern Gortschakow und Andrássy begleitet, und wenn auch förmliche Verträge nicht abgeschlossen wurden, so vereinigten sich doch die drei Kaisermächte über eine gemeinsame Politik zur Erhaltung des Friedens und der bestehenden Verhältnisse. Ihnen schloß sich 1873 der König Viktor Emanuel von Italien an, der im September, von zwei Ministern begleitet, Kaiser Wilhelm in Berlin einen Besuch abstattete.

Dagegen machten sich die Wirkungen des in Preußen ausgebrochenen kirchenpolitischen Kampfes auch in den Reichsverhältnissen mehr und mehr bemerklich. Die Partei des Zentrums, von dem Welfen Windthorst und dem leidenschaftlichen Mallinckrodt geführt, verwandelte sich allmählich in eine schroffe Oppositionspartei, um welche sich alle partikularistischen und reichsfeindlichen Elemente im Reichstag gruppierten. Während im preußischen Landtag der Streit über die Maigesetze immer heftiger entbrannte, forderten auch im Reichstag mehrere Gesetzanträge den Widerstand der Ultramontanen heraus, zunächst der vom bayrischen Minister Lutz beantragte "Kanzelparagraph", wonach Geistliche, welche öffentlich oder in der Kirche für den öffentlichen Frieden gefährliche politische Agitation trieben, strafbar sein sollten. Derselbe wurde 28. Nov. 1871 vom Reichstag angenommen. Ihm folgte 1872 das Jesuitengesetz vom 4. Juli 1872, durch welches die Niederlassungen der Jesuiten und der ihnen verwandten Orden aufgelöst und ihre ausländischen Mitglieder ausgewiesen wurden. Der Papst Pius IX. verschärfte den Konflikt, indem er 1872 den gemäßigten Kardinal Hohenlohe als deutschen Gesandten bei der Kurie zurückwies, in mehreren Allokutionen 1873 heftige Drohungen gegen das neue Deutsche Reich ausstieß und sich 7. Aug. mit einem sehr anmaßenden Schreiben an den Kaiser selbst wandte.

Unterstützt von der gesamten Geistlichkeit, riefen nun die Ultramontanen das ganze katholische Volk zum Kampfe für die Freiheit der Kirche auf und erzielten hierdurch bei den Wahlen zum zweiten deutschen Reichstag, welche 10. Jan. 1874 stattfanden, beträchtliche Erfolge, besonders in Süddeutschland, wo sie sich mit den Partikularisten verbanden. Sie zählten 101 Mitglieder; dazu kamen die Elsaß-Lothringer, die Polen und die Sozialdemokraten (9), so daß die grundsätzliche Opposition auf 140 Stimmen stieg. Die Nationalliberalen zählten 155 Mitglieder und bildeten, je nachdem sie sich mit den Konservativen oder mit der Fortschrittspartei vereinigten, die Majorität. Immerhin gestalteten sich infolge des Anwachsens der Opposition die Verhandlungen des Reichstags lebhafter, ja stürmisch. Am 16. Febr. 1874 traten die elsaß-lothringischen Abgeordneten in den Reichstag ein und beantragten nach einem Protest gegen die Annexion die nachträgliche Abstimmung über dieselbe oder wenigstens die Aufhebung der diktatorischen Vollmachten des Oberpräsidenten. Des letztern Antrags nahmen sich die Ultramontanen an, so daß er 3. März nur mit 195 gegen 138 Stimmen abgelehnt wurde. Aufs heftigste bekämpfte das Zentrum den Antrag von Völk und Hinschius auf Einführung der obligatorischen Zivilehe und der Zivilstandsregister, der 28. März angenommen wurde, und das Gesetz über Verhinderung unbefugter Ausübung von Kirchenämtern (Expatriierungsgesetz), welches Internierung oder Ausweisung als Strafen festsetzte; dasselbe war für die Ausführung der preußischen Maigesetze notwendig und wurde 25. April genehmigt.

Die wichtigste Vorlage der Session war das Reichsmilitärgesetz, welches bestimmte, daß die Friedenspräsenzstärke des Heers an Unteroffizieren und Mannschaften bis zum Erlaß einer anderweitigen gesetzlichen Bestimmung auf 401,659 Mann (1 Proz. der Bevölkerung) normiert sein solle. Hiergegen erhoben nicht nur die Ultramontanen und Sozialdemokraten, sondern auch die Fortschrittspartei und ein Teil der Nationalliberalen Einspruch. Denn auch die letztern hielten es für bedenklich, das Budgetrecht der Volksvertretung dem Militäretat gegenüber fast ganz aus der Hand zu geben, zumal derselbe den weitaus größten Teil des Reichsetats ausmachte. Der linke Flügel der Nationalliberalen unter Lasker, zumeist Abgeordnete aus den altpreußischen Provinzen, verlangte unter dem Einfluß der in der preußischen Konfliktsperiode (1862-66) bei den Liberalen vorwaltenden Anschauungen, daß dem Reichstag das Recht gewahrt werde, die Friedenspräsenzstärke durch das jährliche Etatsgesetz festzustellen, wenn sie auch für jetzt gegen die dreijährige Dienstzeit nichts einwenden und an den Institutionen des Heers nicht rütteln