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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Erblichkeit

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Erblichkeit.

bei den Kindern dieselben Krankheiten auftreten wie bei den Eltern, z. B. der Kropf mit seinen Folgekrankheiten in den Alpenländern. In ähnlicher Weise kann auch der Nachahmungstrieb auf die Kinder wirken und namentlich gewisse Nervenkrankheiten (z. B. Veitstanz) wieder erzeugen, ohne daß eigentliche E. im Spiel ist. Man bezeichnet solche Fälle als scheinbare E. (Pseudoheredität). Ebenso müssen von den ererbten Krankheiten die angebornen (kongenitalen) und die durch Ansteckung von den Eltern empfangenen unterschieden werden, wenn z. B. eine Frau, die ein gesundes Kind geboren hat, tuberkulös wird und ihren Säugling durch die Milch ansteckt oder eine solche Ansteckung schon während der Schwangerschaft erfolgt ist, ohne daß man von wirklicher E. dabei reden könnte. Unter angebornen Krankheiten versteht man solche, die den Kindern und oft mehreren oder allen derselben (sogen. kollaterale Vererbung) anhaften, aber den Eltern durchaus fehlen. Hierher gehören die meisten Fälle von Mißbildungen und namentlich solche, die auf einem anders gearteten organischen Fehler der Eltern beruhen. Auch die angeblichen Mängel in Trunkenheit erzeugter Kinder würden hierher gehören.

Besonders eindringlich für die Macht der E. spricht die in neuerer Zeit durch lange Versuchsreihen von Brown-Séquard erwiesene Thatsache, daß, außer den konstitutionellen Krankheiten und außer den von selbst entstandenen Abänderungen und Abnormitäten, sogar die künstlich erzeugten oder durch einen Zufall erworbenen Verstümmelungen und Folgen operativer Eingriffe in vielen Fällen erblich werden. In der Regel sind nur solche Verstümmelungen erblich, die durch ein längeres Siechtum hervorgebracht werden; doch sind auch viele andre Fälle bekannt, bei denen man einen solchen Grund nicht angeben kann. Hierher gehören wahrscheinlich die hornlosen Rinderrassen Südamerikas, die schwanzlosen Katzen der Insel Man und die indische Erdtümmlertaube der englischen Liebhaber, welche, wenn man sie nicht von der Erde aufnimmt, so lange umherkollert, bis sie stirbt; denn dieses krankhafte Wälzen an der Erde kann man bei gesunden Tauben durch einen operativen Eingriff künstlich hervorrufen.

Bei den neuerworbenen erblichen Eigenschaften wird nun ferner die wichtige Thatsache beobachtet, daß sie bei den Nachkommen häufig nicht bereits mit auf die Welt gebracht werden, sondern sich erst in dem Alter entwickeln, in welchem sie bei den Vorfahren zuerst auftraten, resp. erworben wurden (Gesetz der gleichalterigen oder homochronen E.). So sind nicht bloß Gesundheit und Langlebigkeit erblich, sondern Anzeichen von Geistes- und Körperkrankheiten entwickeln sich erst zu derselben Zeit wie bei den Eltern, und dasselbe findet auch bei geringfügigen Eigentümlichkeiten statt. Diese Erscheinung des Auftretens erblicher Abweichungen im gleichen Lebensalter hängt offenbar mit entwickelungsgeschichtlichen Vorgängen zusammen und ist der Thatsache analog, daß junge männliche Tiere in den ersten Jahren, auch wenn das Männchen vom Weibchen sehr verschieden aussieht, stets der Mutter gleichen und die charakteristischen Kennzeichen und Zierden des Vaters, z. B. Geweih oder schönes Gefieder, erst bei Annäherung des Pubertätsalters empfangen. Es ist indessen einiger Grund vorhanden, anzunehmen, daß in vielen oder den meisten Fällen eine neue Erbschaft von jeder spätern Generation etwas früher angetreten wird (beschleunigte E.), wovon wir den Grund nachher erkennen werden.

Auf der E. neuerworbener Eigenschaften beruhen die Veränderlichkeit der Arten in bestimmten Richtungen und die Möglichkeit der Züchtung bestimmter vorteilhafter oder sonst erwünschter Rassen unter den Haustieren und Kulturpflanzen. Hierbei kommt indessen noch ein begünstigendes Moment in Betracht, dessen gleichmäßige Wirkungsweise man mit dem Namen der progressiven oder akkumulativen E. bezeichnet hat. Da wir die Ursache der meisten Abänderungen der Lebewesen in den äußern Lebensverhältnissen (Klima, Lebens- u. Ernährungsweise, Bodenbeschaffenheit, Umgebung etc.) suchen müssen, so wird in der Regel nicht nur ein bestimmter Grad der Abänderung, sondern eine Tendenz zur weitern Abänderung in derselben Richtung vererbt, und darauf beruht die Möglichkeit für den Züchter, bestimmte Varietäten gleichsam auf Bestellung liefern zu können. Zu diesem Zweck wählen die Züchter immer nach derselben Richtung abändernde Männchen und Weibchen zur Paarung aus und steigern so durch sorgfältige Inzucht, während die unbekannten abändernden Ursachen fortdauern, die anfangs vielleicht nur einseitig aufgetretene Tendenz zu einer bestimmten Abänderung. Diesem Gesetz der progressiven E. verdanken wir den Reichtum unsrer Haustier-, Nutz- und Zierpflanzenformen, und auf ihm ruht nach der neuern Weltanschauung in letzter Instanz auch der unerschöpfliche Reichtum der Natur an neuen und immer neuen Formen.

Zur Erklärung der Erblichkeitserscheinungen sind mancherlei Theorien aufgestellt worden. Außer Zweifel steht es zunächst, daß die E. von den chemischen, morphologischen und biologischen Kräften der männlichen und weiblichen Keimzellen, die sich bei der Zeugung vereinigen, abhängt, wobei nach den neuestens von Strasburger, O. Hertwig, Kölliker u. a. gewonnenen Anschauungen die Vereinigung des Kernprotoplasmas der Keimzellen die Hauptrolle spielt (s. Zeugung). Jäger, Nußbaum und Weismann meinen, daß die Keimzellen dadurch so genau die Identität der Rasse bewahren können, weil sie mehr oder weniger direkte Abkömmlinge der elterlichen Keimzellen seien, so daß man von einer "Kontinuität des Keimprotoplasmas" sprechen könne. Allein gegen eine solche Auffassung spricht, daß bei vielen Pflanzen und niedern Tieren nicht den Keimzellen allein, sondern allen möglichen Zellen ein Reproduktionsvermögen innewohnt, so daß man nur sagen kann, daß die E. an das Protoplasma (Idioplasma Nägelis) überhaupt gebunden ist, welches in den Keimzellen in einer zur Wiederentfaltung seiner Entwickelungskräfte vorzüglich geeigneten Form abgesondert wird. Da nun auch die neuerworbenen Eigentümlichkeiten aller Körperteile der Wesen vererbt werden, so folgt, daß die gegenwärtige Konstitution der Erzeuger unbedingt auf die Beschaffenheit der Zeugungsprodukte einwirken muß, und daran knüpft sich die in ihren Grundzügen bereits von Hippokrates dargelegte Pangenesistheorie Darwins, nach welcher von sämtlichen Teilen eines Organismus stoffliche Beiträge zu den Zeugungssäften geliefert werden, so daß deren jeweiliger Zustand stets in den letztern ausgedrückt ist. Diese Erblichkeitstheorie hat aber ihrer allzu materiellen Auffassung wegen wenig Beifall erworben, und es sind eine Reihe andrer Theorien aufgestellt worden, welche an Stelle der chemischen und stofflichen Beschaffenheit des Keimprotoplasmas den demselben innewohnenden Lebensprozeß in den Vordergrund stellen. In diesem Sinn erklärt Hering die E. als eine Art Gedächtnisfunktion der Materie, durch