Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Erziehung

835

Erziehung (im Altertum).

Geschichtliches.

Als die älteste, urwüchsige Gestalt der E. tritt uns in der Geschichte der Menschheit die patriarchalische E. entgegen, wie sie die Genesis schildert, und wie sie noch heute in den Sippen der Nomadenvölker zu beobachten ist. Die E. ist hier reine Familiensache und besteht lediglich in der Anweisung der Jüngern zur Teilnahme an dem durch einfache natürliche Bedingungen und feststehendes Herkommen geregelten Leben des ältern Geschlechts. Von der E. durch Unterricht zeigen sich kaum die bescheidensten Anfänge. Wo sich die Familien zu Gemeinden und demnächst zu Völkern entwickeln oder zusammenschließen, gewinnt die Volkssitte und die Verfassung der Gemeinde oder des Staats Einfluß auf die E., die damit aus den engen Schranken des Hauses teilweise heraustritt und sich je nach der Eigentümlichkeit der einzelnen Völker verschieden gestaltet.

Wenig Charakteristisches läßt sich in dieser Beziehung von denjenigen Völkern sagen, welche schon vor den Griechen auf den Schauplatz der Geschichte traten oder wenigstens unabhängig von der hellenischen Bildung ihr Volksleben in staatliche Ordnung verfaßten. Wenn es auch bei Chinesen, Indern, Ägyptern an interessanten einzelnen Zügen nicht fehlt, so sind doch die geistigen Anlagen dieser Völker so früh in die Fesseln starrer Gesetzlichkeit, namentlich durch das Kastenwesen, geschlagen, daß von lebendiger Entfaltung ihrer geistigen Eigenart kaum die Rede sein kann. Unter den Völkern Vorderasiens, mit denen die Griechen in Verkehr standen, erwecken die Perser durch das, was von der E. ihrer Jugend zur mannhaften Tüchtigkeit im Rat wie im Krieg, zur Wachsamkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit berichtet wird, besondere Aufmerksamkeit. Allein die Berichte Herodots, Xenophons u. a. sind nur kurz und teilweise von dem Wunsch beeinflußt, den eignen Volksgenossen einen Spiegel vorzuhalten. Auch hielten die Perser ihr arisches Volkstum nicht fest, als sie die Herrschaft in Asien erlangt hatten. Obgleich in vielen einzelnen Richtungen von diesen und andern morgenländischen Vorgängern beeinflußt, zeigen die Hellenen von vornherein ausgeprägte Eigenart auch auf dem Boden der E. Diese Eigenart kündigt sich schon in der noch fast ganz patriarchalischen E. während der alten Heldenzeit an, die uns die Homerischen Gedichte schildern. Die Wertschätzung körperlicher Gewandtheit und Anmut sowie der Kunstübung in Gesang, Saitenspiel, Bildnerei, bei den Weibern auch der Weberei, ist neben dem verhältnismäßig reichen Schatz ererbter Lebensweisheit für Haus und Markt und Krieg bezeichnend, und in wenigen Jahrhunderten treiben diese Keime bis zur schönsten Blüte empor. Besonders wirkte dazu in den Jahrhunderten vor dem Höhepunkt des staatlichen Lebens in Griechenland (800-500 v. Chr.) die reiche Entfaltung des gottesdienstlichen Lebens mit, an dem der heranblühenden Jugend, den Epheben, in den öffentlichen Aufzügen mit Gesang und Tanz ein wesentlicher Anteil zufiel. Die beiden Grundrichtungen der gymnastischen und der musischen E. haben hierin ihre Quelle, wenn sie auch erst unter dem Einfluß des erwachenden staatlichen Bewußtseins zur vollen Ausprägung gelangten. Übrigens blieb die E. der Kinder, auch der Knaben, in ganz Griechenland unmittelbar der Familie überlassen; nur in dem dorischen Sparta, dem hierin die übrigen stammverwandten Staaten nur teilweise folgten, nahm der Staat das Geschäft der E. vom siebenten Lebensjahr an unmittelbar in die Hand und ließ dieselbe durch den Pädonomos in kriegerischer Strenge ausführen. Die einzelnen Züge der spartanischen E., wie man sie gewöhnlich an den Namen des Lykurg knüpft, dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. Sie erstreckte sich auch auf die weibliche Jugend, die demgemäß neben dem Rufe fast männlicher Tapferkeit auch den der Derbheit in sittlicher Hinsicht genoß. In Athen und ähnlich in den übrigen ionischen Städten überwog früh schon das musische und geistige Element in der E. Der Wert sorgfältiger E. stand bei den Athenern hoch. Das Gesetz des Solon sprach den Sohn, dessen E. vernachlässigt war, von der Pflicht der Erhaltung der alternden Eltern frei. Früh schon finden wir in Athen Schulen, wie denn alte Sagen Homer und Tyrtäos als attische Schulmeister bezeichnen. Nach den Perserkriegen breiteten sich, wenn auch ohne staatlichen Zwang, öffentliche Palästren (Ringschulen) für die Knaben und Gymnasien (Turnplätze u. Turnhallen) für die Epheben nach spartanischem Muster auch in Athen und den übrigen griechischen Staaten aus, so daß diese Sammelplätze der jungen Welt bald das volkstümliche Merkmal aller unter den Barbaren zerstreuten griechischen Städte wurden. Gleichzeitig erweiterte sich die bis dahin auf die einfachsten Grundlagen beschränkte geistige Ausbildung durch die Bestrebungen der Sophisten, Philosophen, Rhetoren zu dem, was seit Platon, dem Schüler des Sokrates, als allgemeine Bildung (enkyklios paideia) bezeichnet und später in der römischen Welt in die sieben freien Künste gegliedert wurde. Die enge Verbindung und glückliche gegenseitige Ergänzung der geistigen und der leiblichen Ausbildung ist aus den Platonischen Gesprächen zu ersehen, die, wie die gesamte griechische Litteratur, von den glänzenden Ergebnissen der hellenischen, namentlich der attischen, E. rühmlich zeugen. Aber freilich hatten auch schon Sokrates, Platon, Aristoteles vielfach die eingetretene Überfeinerung zu tadeln, und die Klage, daß die neuere Art der E. die Jugend den Göttern des Staats und damit den festen Grundlagen des Volkslebens entfremde, war, wenn sie auch gerade Sokrates mit Unrecht traf, an sich begründet. Die Vernachlässigung der weiblichen Jugend und die unbedingte Ausschließung nicht bloß der zahlreichen Sklaven, sondern auch der ärmern, auf Handwerk und Handarbeit angewiesenen Bevölkerung vom Unterricht bezeichnen bedenkliche Schranken der hellenischen E.; als der häßlichste Fleck derselben muß die widernatürliche Entartung der aus einer schönen Anlage der Griechen für die Freundschaft entsprungenen und von edlern Männern, wie Sokrates, noch immer ideal und rein aufgefaßten Knabenliebe erwähnt werden.

Bei den Römern war von Haus aus das Leben des Hauses weit fester in sich abgeschlossen und daher auch die E. mehr in die Grenzen des Hauses gebannt, wo neben dem streng herrschenden Vater namentlich auch die Mutter maßgebenden Einfluß übte. Sittlicher Ernst, altväterische Zucht und praktische Ausrüstung fürs Leben waren die leitenden Gesichtspunkte der altrömischen E. Daher ward hier neben Lesen und Schreiben Rechnen gelehrt und dies auch früh schon in Schulen. Die weitere Entwickelung des Staatslebens machte ferner kriegerische Vorbildung und demnächst auch eine gewisse Rücksicht auf die öffentlichen Geschäfte des Forums für die höhern Stände erforderlich. An diesem Punkt setzte der griechische Einfluß ein, der allmählich, nicht ohne Widerspruch und Widerstand der altrömischen Familien, in den höhern Ständen die Herrschaft gewann. Doch wurde die herkömmliche griechische Bildung bei ihrer Übertragung