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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Evangelistarium; Evangelium

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Evangelistarium - Evangelium.

mit dem Adler abgebildet zu werden pflegen. - Bei den Irvingianern ist E. Titel ihrer Missionsprediger; in der griechischen Kirche die vier seidenen Stücke der Altarbekleidung.

Evangelistarium, s. Evangeliarium.

Evangelium (griech.), eigentlich "frohe Botschaft", jetzt gewöhnliche Bezeichnung eines der vier schriftlichen Berichte, welche das Neue Testament über Leben und Reden, Thaten und Leiden Jesu von Nazareth als des Messias enthält, auch wohl für alle vier als Gesamtheit. Dem Gebrauch des Wortes im Neuen Testament liegt die Stelle Jes. 61, 1 zu Grunde, welcher Jesus selbst den so glücklichen Ausdruck zur Bezeichnung des Inhalts und des Zweckes seines öffentlichen Auftretens entnommen hat (Luk. 4, 18). So bildet das Wort seitdem überhaupt den stehenden Titel, die sprechende Etikette für den neuen religiösen Inhalt, welcher der Welt im Christentum dargeboten und in alle Länder verbreitet werden sollte. Es bedeutet die Freudenbotschaft von dem genahten Gottesreich (Mark. 1, 15), aber in unsern Evangelien selbst bereits auch spezieller den Bericht von der Stiftung dieses Gottesreichs, vom Messias, seinem Auftreten und seinen Geschicken (Mark. 14, 9), während Paulus unter E. die ihm eigentümliche Verkündigung von dem Heilswert des Kreuzestodes Jesu versteht (1. Kor. 15, 1-4). Dagegen heißen unsre schriftlichen Berichte noch zuzeiten des gegen 160 schreibenden Märtyrers Justinus zwar auch bereits "Evangelien", gewöhnlich aber nennt er sie "apostolische Denkwürdigkeiten". Während aber er selbst und die christlichen Schriftsteller vor ihm neben unsern kanonisch gewordenen ganz unbefangen auch solche Evangelien gebrauchen, welche die Kirche später als apokryphisch und häretisch verworfen hat, steht die Vierzahl der neutestamentlichen Evangelien bereits bei dem gegen 190 schreibenden Irenäus fest, der sie auch nicht mehr als "Denkwürdigkeiten der Apostel" von menschlicher Entstehungsweise und relativ zufälligem Inhalt, sondern als inspiriertes und unfehlbares Gotteswort betrachtet.

Über die Entstehungsweise der Evangelien läßt sich nur Allgemeines mit einer gewissen Sicherheit feststellen. Jesus selbst unterscheidet sich von andern Religionsstiftern sehr charakteristisch dadurch, daß er keinen Buchstaben hinterlassen hat. Diese großartige Sorglosigkeit um das Geschick seiner neuen Reichspredigt hat ihn nicht betrogen. Sein Wort bewährte ewige Jugend auch in Gestalt der nur mündlich sich fortpflanzenden Überlieferung, in welcher es über ein Jahrhundert lang durch die christliche Gedankenwelt hinlief, bis etwa um die Mitte des 2. Jahrh. die lebendige Stimme jener Überlieferung versiegt und an die Stelle der noch von Papias (s. d.) befragten mündlichen Sage immer allgemeiner die schriftliche Quelle tritt. Derselbe Papias legt aber schon durch den Titel seiner verloren gegangenen Schrift "Deutungen von Herrnworten" Zeugnis für den Hauptinhalt der ältesten, unsern schriftlichen Evangelien vorangehenden Überlieferung ab. Offenbar waren es zunächst "Reden des Herrn", die sich fortpflanzten: Aussprüche von so tendenziöser Kürze, von so schlagendem Ausdruck, von so populärer Klarheit, wie namentlich die Bergpredigt des Matthäus sie perlenartig aneinander gereiht hat. Schon in den Briefen des Paulus blickt an mehr als einem Orte die Bekanntschaft mit diesem ältesten Inhalt aller Überlieferung durch, während er von Thatsachen des Lebens Jesu bloß die Abendmahlsstiftung, den Kreuzestod und die Auferstehung erwähnt und auch, wie es scheint, nicht viel mehr kennt. Ja, auch diese wenigen Thatsachen kommen nicht insofern zur Sprache, als sie etwa für den geschichtlichen Forschersinn, sondern bloß, sofern sie für den Glauben von Belang sind. Erst allmählich erwachte am religiösen Interesse auch das geschichtliche, und von der Leidensgeschichte, die sich dem Gedächtnis der ersten Gemeinden am tiefsten und treuesten eingeprägt hatte, rückwärts gehend, bildete sich allmählich eine zusammenhängendere Anschauung von der galiläischen Wirksamkeit des Messias. Abgerissene Einzelbilder sammelten jetzt sich gruppenweise und gliederten sich allmählich einem großen und in der Hauptsache in sich abgeschlossenen, wohl abgerundeten Zusammenhang von Lebens- und Sterbensschicksalen Jesu ein. Aber zu einer feststehenden Vorstellung von dem Verlauf der sogen. evangelischen Geschichte konnte es erst kommen, als von den Aposteln und unmittelbaren Jüngern Jesu einer nach dem andern die Bahn des Todes wandelte und bald keiner mehr da war, der, alle schriftstellerischen Bemühungen überflüssig machend, aus eigner Anschauung hätte berichten können über "die ganze Zeit, welche der Herr Jesus unter uns ist aus- und eingegangen" (Apostelgesch. 1, 21). Jetzt erst setzte sich die schwankende mündliche Überlieferung immer vollständiger in eine schriftliche um, wobei naturgemäß die schon sagenhaft angehauchte Erinnerung eine willkommene Ergänzung durch je länger, desto bewußter auftretende Kunstbildung fand. Diese Schriftsteller wollten in erster Linie nicht erzählen, sondern erbauen und belehren, und es ist in einzelnen Fällen, wie z. B. in der Versuchungsgeschichte, fast unmöglich, zu unterscheiden, was eigentliche Geschichtserzählung, was naive Legende, was bewußterweise lehrhafte Darstellung sein soll. Jedenfalls entspricht nichts so sehr dem die ganze Bibel durchwehenden Geiste des Morgenlandes als dieser überall bemerkbare und oft in entscheidender Weise durchschlagende Trieb unsrer Evangelien, die Erzählung zum Sinnbild und Träger höherer religiöser und sittlicher Wahrheit umzugestalten. War es zunächst nur unwillkürlich sich geltend machender Einfluß des alttestamentlichen Messiasideals (vgl. namentlich Jes. 29, 18 f.; 35, 5 f.; 42, 7), was einen duftigen Schleier von mythischer Darstellung über die evangelische Geschichte warf, so wurde daraus mit der Zeit zweckvolle Nachahmung dessen, was die alttestamentlichen Geschichtsbücher, welche unsern Evangelisten als Vorbilder ihrer Schriftstellerei vorschwebten, von Moses, Elias, Elisa u. a. zu erzählen hatten. Die Verfasser dieser Berichte standen nun einmal mitten im jüdischen Lebenskreis und lebten und webten in jenen Bildern, Anschauungsformen und Erzählungen, abgesehen davon, daß ihr eigner Glaube die Forderung stellte, daß in dem Messias erfüllt und überboten werde, was das Alte Testament von jenen Gottesmännern zu erzählen wußte. Noch sind die alttestamentlichen Vorbilder, welche hier bald buchstäblich wiederholt, bald gesteigert werden, mit Fingern nachweisbar. So ist bei der ganzen urchristlichen Schriftstellerei der praktische Gesichtspunkt des Glaubens und der besondern Glaubensrichtung stets mit beteiligt und einem nüchternen geschichtlichen Interesse mindestens gewachsen. Das Bild Jesu selbst wurde von verschiedenen Richtungen verschieden aufgefaßt, und diesen letztern konnte es nur dienlich und naheliegend erscheinen, aus dem vorhandenen Stoff eine passende Auswahl zu treffen, zweckentsprechende Zusätze zu machen, selbständige Umbildungen eintreten zu lassen. So hat der Ultrapauliner Marcion um das Jahr 140 unser drittes E. noch paulinischer gemacht, als es im Unterschied vom