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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

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Frankreich (Geschichte: Napoleon III.).

Abtretung von Savoyen und Nizza, welche 24. März 1860 erfolgte und von der französischen Regierung als eine Sühne des 1815 F. widerfahrenen Unrechts dargestellt wurde, fügte sich Napoleon in die vollendeten Thatsachen.

Diese Gebietsvergrößerung, die Vernichtung der österreichischen Herrschaft in Italien, die Lorbeeren von Magenta und Solferino waren die Früchte des kostspieligen und blutigen Kriegs von 1859. Auf ihren günstigen Eindruck vertrauend, erließ der Kaiser 16. Aug. 1859 eine allgemeine Amnestie und verlieh 1860 dem Gesetzgebenden Körper das Recht, eine Adresse als Antwort auf die Thronrede zu votieren. Indes fanden der italienische Feldzug und sein Ergebnis keineswegs allgemeine Anerkennung. Die militärischen Leistungen, namentlich des Kaisers selbst, wurden vielfach angefochten, die Einigung Italiens als ein entschiedener politischer Fehler bezeichnet, zumal es der Kaiser geschehen lassen mußte, daß Italien auch Neapel und Sizilien annektierte und dem Papste den größten Teil des Kirchenstaats entriß. Die Preisgebung des Papstes verziehen die Klerikalen Napoleon nicht, während die Radikalen den Schutz Roms durch französische Truppen als eine schwächliche Halbheit tadelten. Durch die Annexion Savoyens und Nizzas trotz der vielgepriesenen französischen Uneigennützigkeit erhöhte sich in ganz Europa das Mißtrauen gegen Napoleon; namentlich in Deutschland fürchtete man seine geheimen Ränke und Pläne, um die Rheingrenze wiederzugewinnen. Selbst weise Maßregeln, wie der freihändlerische Handelsvertrag mit England (23. Jan. 1860), dem Verträge ähnlicher Richtung mit andern Staaten folgten, wurden dem Kaiser in F. und im Ausland übel gedeutet. Die Finanzen drohten in Unordnung zu geraten, da sich die Staatsschuld seit 1852 um 2½ Milliarden vermehrt hatte. Um die Kontrolle der Finanzen durch den Gesetzgebenden Körper zu verstärken, wurde auf Antrag des Finanzministers Fould dem Gesetzgebenden Körper das Recht verliehen, das Budget nach speziellen Kapiteln statt, wie bisher, nach Ministerien zu votieren. Die kleine Opposition in der Kammer, welche bis 1863 nur 5 Mitglieder betrug, aber 1863 auf 35 stieg, erlangte auf die öffentliche Meinung immer mehr Einfluß, da ihre scharfe Kritik die Schwächen des Kaiserreichs schonungslos aufdeckte.

Um die Nation zu beschäftigen und durch einen neuen Erfolg zu blenden, mischte sich die Regierung in auswärtige Verhandlungen und suchte überall die Ehre und den Ruhm der französischen Fahne glänzen zu lassen. Die Politik des Kaiserreichs erhielt dadurch einen unruhigen, abenteuerlichen Charakter, der allerdings der Vergangenheit und den Eigenschaften der Genossen und Berater des Kaisers, eines Morny, Persigny, Walewski u. a., entsprach. Die Kräfte des Staats wurden dadurch zersplittert, die Eitelkeit und Begehrlichkeit der Nation gereizt und dennoch nie befriedigt. 1860 nahm F. an einem Krieg Englands gegen China teil und intervenierte in Syrien zu gunsten der Christen. Geradezu verhängnisvoll wurde dem Kaiserreich die mexikanische Unternehmung, welche 1861 begonnen wurde, um auf Grund haltloser Privatansprüche die große Republik Mexiko und damit Zentralamerika unter französischen Einfluß zu bringen und, während die Vereinigten Staaten Nordamerikas sich im Bürgerkrieg zerfleischten, die lateinische Rasse, als deren Haupt die französische Nation bezeichnet wurde, zur herrschenden in Amerika zu erheben. Die Kosten und Verluste im mexikanischen Krieg waren sehr bedeutend, die militärischen Erfolge keineswegs glänzend, wenn die Franzosen auch schließlich Mexiko eroberten. Um die wirkliche Höhe der Summen, welche das Unternehmen verschlang, nicht bekannt werden zu lassen, da die Opposition im Gesetzgebenden Körper schon heftig genug war, wurden alles in den Depots vorhandene Kriegsmaterial und alle disponibeln Geldmittel heimlich verbraucht. Hierdurch ward Frankreichs Kriegsbereitschaft derart erschüttert, daß es die Polen in dem seit 1861 wütenden Aufstand nicht wirksam zu unterstützen vermochte, nachdem Rußland die diplomatische Intervention der Mächte zurückgewiesen hatte, daß es mit Italien die Septemberkonvention (15. Sept. 1864) schloß und Rom räumte und endlich auch nicht in die schleswig-holsteinische Verwickelung (1863-64) zu seinem Vorteil einzugreifen wagen durfte. Der Versuch, in Mexiko ein F. ergebenes Kaiserreich zu gründen und sich so aus der schwierigen Lage zu befreien, scheiterte kläglich. Nachdem die französischen Truppen vergeblich sich bemüht hatten, den Thron Maximilians zu befestigen, mußten sie auf die drohende Mahnung der Union 1867 Mexiko räumen und Maximilian preisgeben, dessen tragischer Tod (19. Juni 1867) die Ehre und das Ansehen des französischen Kaiserreichs empfindlich schädigte.

Das unglückselige mexikanische Abenteuer lähmte auch noch 1866 während des preußisch-deutschen Kriegs Frankreichs Aktionskraft. Napoleon begünstigte die Politik Bismarcks in der schleswig-holsteinischen Streitfrage und beförderte das Bündnis mit Italien, einmal aus Vorliebe für das Nationalitätsprinzip, dann, weil er sicher darauf rechnete, daß die beiden deutschen Mächte ihre Kräfte in einem langwierigen Krieg aufreiben und ihm dann die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, die Annexion Belgiens und des linken Rheinufers, leicht sein würde. Gegenüber der Opposition in der Kammer und den Reden Thiers', welcher vor den Gefahren der Nationalitätspolitik warnte und die Rückkehr zu der alten Tradition Frankreichs forderte, das sich gegen die großen Staaten auf die kleinen stützen müsse, that er bei Gelegenheit eines Festes in Auxerre den Ausspruch: "Ich verabscheue die Verträge von 1815, auf welche man uns jetzt verweisen will". Aber der unerwartet schnelle und vollständige Sieg Preußens in Böhmen warf alle Vorausberechnungen und Pläne des Kaisers über den Haufen. Es war nur eine geringe Genugthuung für Sadowa, welches die Franzosen fast wie eine von ihnen selbst erlittene Niederlage und Schmach empfanden, daß Österreich die französische Vermittelung anrief und dem Kaiser Venetien abtrat. Bei den Friedensverhandlungen vermochte F. nur wenige Wünsche durchzusetzen, und da es nicht zu einem Kriege gerüstet war, wagte es die gehofften Kompensationen von Preußen nicht energisch zu fordern. In einer Note des neuen auswärtigen Ministers, Lavalette, machte Napoleon gute Miene zum bösen Spiel, indem er die Auflösung des alten Bundes und die Einigung Deutschlands unter Preußen wie die Italiens als einen Sieg der französischen Ideen pries. Aber im französischen Volk fanden die Behauptungen der oppositionellen Redner und Zeitungen viel mehr Glauben, daß durch die Schuld Napoleons das legitime Übergewicht Frankreichs verloren, ja durch die Bildung zweier großer Staaten an seiner Grenze seine Sicherheit ernstlich gefährdet sei, und der allgemeine Unwille wurde so laut, daß die Regierung von neuem zu Repressivmaßregeln gegen Presse und Vereine schritt und die Adreßdebatte der Kammer durch das Interpellationsrecht ersetzte.