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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

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Frankreich (Geschichte: die dritte Republik).

teils aus Überzeugung, teils um in der Volksgunst von den Radikalen nicht überholt zu werden, meist nachgiebig zeigten. So gaben sie ihre Zustimmung zur Amnestie von 3300 Kommunarden und zur Verlegung des Sitzes der Kammern von Versailles nach Paris, welche im November 1879 erfolgte. Bei der Beratung der vom Unterrichtsminister Ferry vorgelegten Unterrichtsgesetze wurde der Klerus vom Unterrichtsrat ausgeschlossen und allen nicht anerkannten Kongregationen, auch den Jesuiten, die Leitung von Unterrichtsanstalten verboten. Nun verlangten die Radikalen unbedingte Amnestie für alle Kommunarden und fernere Säuberung des Richterstandes von allen nicht republikanisch gesinnten Personen. Sie beschuldigten die Minister der Unentschlossenheit und des Zauderns, wodurch die Republik gefährdet werde, und wenn Waddington auch wiederholt ein Vertrauensvotum von der Mehrheit erlangte, sobald er die Kabinettsfrage stellte, so war die Haltung der Mehrheit doch eine so unzuverlässige, daß Waddington im Dezember 1879 seine Entlassung nahm und Freycinet an seine Stelle trat. Auch dieser hatte Mühe, dem ungestümen Drängen der Radikalen Widerstand zu leisten, und erlangte für einige Zeit Ruhe nur dadurch, daß der unerwartete Widerstand des Senats gegen die Ausschließung der nicht erlaubten Orden vom Unterricht die Aufmerksamkeit der Radikalen ablenkte. Auf Antrag der Kammer beschloß die Regierung, den vom Senat angefochtenen 7. Artikel aus den Unterrichtsgesetzen zu entfernen, worauf der Senat sie genehmigte, und auf Grund früherer Gesetze gegen jene Orden, namentlich gegen die Jesuiten, vorzugehen. Durch Dekret vom 29. März 1880 wurden alle Unterrichtsanstalten der Jesuiten aufgehoben, den übrigen Orden die Einreichung ihrer Statuten befohlen. Kaum aber war dies erreicht, als das Verlangen nach allgemeiner Amnestie erneuert wurde. Grévy und Freycinet sträubten sich dagegen, da sie auch die gemeinen Verbrecher unter den Kommunarden betraf, fügten sich aber, als Gambetta für die radikale Forderung eintrat. Noch vor der ersten Feier des neu eingerichteten Nationalfestes zur Erinnerung an den Bastillesturm (14. Juli) wurde 10. Juli die Amnestie beschlossen und verkündet, die Rochefort, Eudes, Grousset u. a. die Rückkehr nach Frankreich gestattete. Dennnoch ^[richtig: Dennoch] wurde Freycinet im September zum Rücktritt genötigt, weil er mit der Kurie eine Übereinkunft über die Duldung der nicht ermächtigten Kongregationen (außer den Jesuiten) abgeschlossen hatte, die Gambetta nicht billigte. Ferry, der neue Ministerpräsident, übernahm es, durch Auflösung aller nicht erlaubten Mönchsorden die Märzdekrete auszuführen, was er auch mit Energie und unter heftigem Widerstand der auszutreibenden Kongregationen that.

Die Nachgiebigkeit des Präsidenten Grévy gegen die Wünsche der Kammermehrheit, der glänzende Aufschwung des Wohlstandes in F., welcher eine solche Steigerung der Staatseinnahmen zur Folge hatte, daß man für die Flotte, das Landheer, die neue Befestigung an der Ostgrenze, für den Unterricht, für öffentliche Bauten und Eisenbahnen (1500 Mill.), für Schuldentilgung (1000 Mill.) ungeheure Summen ausgeben und doch die Steuern und Abgaben seit 1876 um mehr als 200 Mill. herabsetzen konnte, endlich die Ohnmacht der monarchistischen Parteien, von denen die der Republik gefährlichste, die bonapartistische, durch den plötzlichen Tod des kaiserlichen Prinzen (1. Juni 1879) gelähmt war, verleiteten die Mehrheit der Kammer, die Autorität der Regierung durch Angriffe oder ungebührliche Forderungen immer wieder zu erschüttern. So wurde gleich nach Eröffnung der neuen Session im November 1880 das erste Verlangen des neuen Ministeriums Ferry, daß die weitern Unterrichtsgesetze (Unentgeltlichkeit des Volksunterrichts und Schulzwang) vor der Reform des Richterstandes beraten würden, von der Majorität abgelehnt. Nur mit Mühe konnte Ferry vom Rücktritt abgehalten werden. Die Reform des Richterstandes, bei welcher es darauf abgesehen war, durch Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter auf ein Jahr mit einemmal eine größere Anzahl mißliebiger Richter zu beseitigen, konnte übrigens zunächst nicht vereinbart werden. Von den Unterrichtsreformen scheiterte die Einführung des Schulzwanges am Widerspruch des Senats.

Eine eigentümliche Stellung nahm bei allen diesen Verhandlungen Gambetta ein. Er war der Führer der Majorität, hatte sich aber bisher geweigert, an die Spitze des Ministeriums zu treten. Gleichwohl wollte er den Ministern seinen Willen aufzwingen und mischte sich sogar eigenmächtigerweise in die auswärtige Politik. Sein letztes Ziel war die Präsidentschaft der Republik. Er glaubte diese Machtstellung am sichersten zu erreichen, wenn er sich bei den 1881 bevorstehenden Neuwahlen eine große, unbedingt sichere Mehrheit verschaffte. Das beste Mittel hierzu schien ihm die Einführung der Listenabstimmung statt der Arrondissementswahlen bei den Deputiertenwahlen zu sein; denn wenn jedes Departement die Deputierten zusammen wählte, konnten die Wahlen besser beherrscht werden und er selbst, in zahlreichen Departements gewählt, als der Erwählte der Nation auftreten. Er beantragte also die Einführung der Listenwahlen in der Kammer und setzte sie auch im Mai 1881, freilich nur mit einer Mehrheit von 8 Stimmen, durch. Der Senat verwarf sie jedoch. Gleichwohl beherrschte Gambettas 11. Aug. veröffentlichtes Programm die Neuwahlen für die Deputiertenkammer und verschaffte den Republikanern einen glänzenden Sieg. Die Zahl derselben stieg auf 459 Mitglieder, die des Gambettistischen Republikanischen Vereins allein auf 206; die Zahl der Monarchisten sank von 147 auf 88. Jetzt konnte sich Gambetta der Übernahme des Ministeriums nicht länger entziehen. Nachdem Ferry freiwillig zurückgetreten, bildete Gambetta 14. Nov. 1881 sein Kabinett, "le grand ministère", wie es seine Anhänger nannten, in dem aber außer dem Präsidenten selbst keine bedeutenden Politiker saßen.

Außer dem glänzenden Sieg seiner Partei bewog auch die auswärtige Politik Gambetta, gerade jetzt an die Spitze der Regierung zu treten. F. hatte in den ersten Jahren nach der Katastrophe von 1870/71 eine leicht begreifliche Zurückhaltung in der europäischen Politik bewiesen und sich ganz der Wiederherstellung seiner Wehrkraft und der Ordnung seiner Finanzen gewidmet. Nicht bloß Thiers, sondern selbst Mac Mahon u. seine reaktionären Minister hatten der Versuchung widerstanden, dem klerikalen Verlangen entsprechend für die Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes einzutreten. Alle Wünsche und Hoffnungen richteten sich auf die Revanche, auf die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens, während man sich den Anschein gab, als müsse man einen neuen Eroberungskrieg des unersättlichen Preußen fürchten und für diesen Fall sich rüsten. Da man indes auf den glücklichen Ausgang eines nur mit eigner Kraft geführten Kriegs gegen Deutschland nicht rechnen zu dürfen glaubte, so setzte man sein Vertrauen auf