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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

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Frankreich (Geschichte: die dritte Republik).

eine Koalition gegen das neue, wie man hoffte, auch bei den andern Völkern verhaßte Deutsche Reich, besonders auf die Hilfe Rußlands. Decazes, welcher 1873-77 die auswärtige Politik Frankreichs leitete, war unablässig bemüht, eine solche günstige Konstellation vorzubereiten. Die Friedensliebe des deutschen Kaisers und Volkes, die Wachsamkeit und Umsicht Bismarcks vereitelten freilich alle französischen Pläne und Hoffnungen, und nach Decazes' Rücktritt trat eine Wendung in der auswärtigen Politik ein. Indem man sich den Revanchekrieg für die Zukunft vorbehielt, beschloß man die Wahrung der französischen Interessen auf andern Gebieten, namentlich im Orient und im Mittelmeer, nicht zu versäumen. Der auswärtige Minister Waddington vertrat selbst F. 1878 auf dem Berliner Kongreß und sicherte sich hier die Zustimmung Englands und Bismarcks zu dem Plan, Tunis in den französischen Machtbereich zu ziehen. Auch in Ägypten wahrte die Regierung F. neben England einen maßgebenden Einfluß bei der Kontrolle der Finanzen. Einer aktiven Politik standen nun freilich manche Bedenken entgegen. Viele Franzosen wollten sich nicht in auswärtige Unternehmungen einlassen, welche Bismarck benutzen könne, um über das wehrlose F. herzufallen oder andre Mächte gegen dasselbe zu hetzen. Erst als die Italiener in Tunis sich mehr und mehr festsetzten, beschloß Ferry 1881, zu handeln. Räubereien, welche der Tunis unterthänige Stamm der Krumir an der Grenze von Algerien verübt haben sollte, gaben den erwünschten Vorwand, den Einmarsch französischer Truppen in Tunis zu befehlen. Diese nötigten 12. Mai 1881 dem Bei einen Vertrag auf, der Tunis unter die französische Schutzherrschaft stellte. Allerdings erforderte der Widerstand der Bevölkerung eine Verstärkung der Truppenmacht und einen Feldzug in das Innere, indes vor Ende des Jahrs war das Land unterworfen, und die Organisation desselben wurde sofort begonnen, worüber 14. Juli 1882 ein neuer Vertrag mit dem Bei abgeschlossen ward (s. Tunis). Gambetta glaubte jetzt (Januar 1882) den Augenblick gekommen, durch eine kräftige Aktion in Gemeinschaft mit England in Ägypten, wo der Aufstand Arabi Paschas ausgebrochen war (s. Ägypten), eine enge und feste Allianz mit diesem Reich anzuknüpfen und hierdurch sowie durch Verbindung mit den russischen Panslawisten F. einen Rückhalt zu verschaffen, der ihm den ersehnten Revanchekrieg ermögliche. Indes die Weigerung des englischen Kabinetts, schon jetzt zu einer bewaffneten Intervention in Ägypten zu schreiten, vereitelte seine Pläne, und da gleichzeitig die Kammer sich den von ihm beantragten Verfassungsänderungen, namentlich der von neuem vorgelegten Listenabstimmung, widersetzte, ja bei deren Ablehnung mit 305 gegen 119 Stimmen ihre Abneigung gegen eine persönliche Diktatur, wie Gambetta sie erstrebte, offen kundgab, so nahm Gambetta, der gefeierte Volkstribun, schon 26. Jan. 1882 seine Entlassung.

Das neue Ministerium Freycinet beschloß die Verfassungsrevision zu vertagen, dagegen eine Dezentralisation der Verwaltung vorzunehmen und die Ordnung der Finanzen herzustellen, welche durch das allzu große Vertrauen der Republikaner auf die unerschöpflichen Hilfsquellen des Staats, infolgedessen man die Ausgaben übermäßig gesteigert und neue Anleihen aufgenommen hatte, gefährdet worden war. Indes von alledem vermochte das Ministerium nichts zu stande zu bringen (nur die Annahme des Schulzwangsgesetzes im Senat erreichte es), denn es wurde schon im Juli wieder gestürzt. Während die Monarchisten und Radikalen dasselbe prinzipiell und offen bekämpften, spannen die Gambettisten aus Neid und Eifersucht allerlei Ränke gegen Freycinet. Nachdem sie in innern Fragen eine Mehrheit gegen ihn zu bilden vergeblich versucht hatten, bewirkten sie 29. Juli, daß der von Freycinet verlangte Kredit zur Beschützung des Suezkanals verweigert wurde, obwohl Gambetta kurz vorher Freycinet seine Zurückhaltung in der ägyptischen Politik vorgeworfen und eine energische Aktion gefordert hatte. Die Folge war, daß das Ministerium Freycinet zurücktrat, ohne daß sofort ein neues gebildet werden konnte, und daß inzwischen England sich allein der Gewalt in Ägypten bemächtigte und F. aus der Finanzkontrolle verdrängte. Duclerc, der am 7. Aug. das Präsidium des neuen Kabinetts übernahm, vermochte das nicht zu hindern. Seine Regierung dauerte übrigens nicht lange. Der Tod Gambettas (31. Dez. 1882) rief einige Demonstrationen der monarchistischen Prätendenten hervor. Die Linke verlangte sogleich die Ausweisung aller Mitglieder der Familien, die früher in F. geherrscht hatten. Da das Ministerium Duclerc nicht darauf eingehen wollte, nahm es 29. Jan. 1883 seine Entlassung, und in der darauf eintretenden Verwirrung kam nur ein provisorisches Kabinett unter Fallières zu stande. Auch dieses vermochte nicht, Senat und Kammer zu übereinstimmenden Beschlüssen über ein Prätendentengesetz zu bewegen, und machte 21. Febr. einem Ministerium Ferry Platz.

Ferry beschwichtigte die Aufregung über die Prätendenten dadurch, daß er alle Prinzen des Hauses Orléans durch Dekret des Präsidenten ihrer militärischen Stellen entsetzte, und wurde von der Kammer wenig angefochten, weil die republikanische Mittelpartei doch einsah, daß der fortwährende Ministerwechsel nicht bloß die Autorität der Regierung, sondern den Bestand der Republik selbst gefährden könne. So wurde denn die Konversion der 5proz. Rente in eine 4½proz. zu stande gebracht und die Gerichtsreform dadurch erledigt, daß dem Justizminister Vollmacht erteilt wurde, die Zahl der Richter um 614 Stellen zu vermindern und dem entsprechend 614 der Regierung mißliebige Richter durch Pensionierung zu beseitigen. Da Ferry sich bis 1885 behauptete, so konnte er auch noch die Annahme des Ehescheidungsgesetzes bewirken. Den Radikalen machte er das Zugeständnis, daß er eine Verfassungsrevision beantragte, welche die Senatswahlen anders regelte und das Verhältnis der Gewalten zu einander bestimmter festsetzte; dieselbe wurde nach langen leidenschaftlichen Verhandlungen vom Kongreß im August 1884 genehmigt. Die Finanzen bereiteten wegen des Daniederliegens der Geschäfte und des Rückganges der Staatseinnahmen Schwierigkeiten, und die Budgetverhandlungen zogen sich 1884 so lange hin, daß das Budget nicht rechtzeitig festgestellt wurde. Dennoch kam das herrschende System nicht in Gefahr, da die monarchistischen Parteien durch den Tod des Grafen Chambord, das kleinliche, feige Verhalten der Orléans und die Desorganisation der Bonapartisten zur Ohnmacht verurteilt waren und die Anarchisten, die Nachfolger der Kommunarden von 1871, nur in Paris und Lyon Bedeutung hatten. Daß Ferry schließlich doch zu Falle kam, hatte seinen Grund in der Kolonialpolitik.

Nachdem Tunis gewonnen war, richtete F. seine Blicke auf seine übrigen Kolonien in den fremden Erdteilen. Nachdem 1880 Tahiti und 1881 die Mangarewainseln in der Südsee annektiert worden waren, schritt