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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (18. Jahrhundert).

ma mère l'Oye" herausgab; eine gewandte und geistreiche Nachfolgerin war die Gräfin d'Aulnoy (gest. 1705). Auch Fénelon (gest. 1715), der in seinem "Télémaque" den klassischen didaktischen Roman dieser Periode schuf, schrieb Märchen für die Erziehung des Herzogs von Bourgogne. Zu Anfang des 18. Jahrh. machte eine Übersetzung Ant. Gallands von "Tausendundeine Nacht" mit den orientalischen Märchen bekannt, worin sich mit Glück auch Ant. Hamilton und der bekannte Archäolog Graf Caylus versuchten. Eine besondere Erwähnung verdienen die "Maximes" von La Rochefoucauld (gest. 1680) und die "Caractères" von La Bruyère (gest. 1696), zwei dem Inhalt und der Form nach vortreffliche Werke; nicht minder die "Provinciales" und "Pensées" von Blaise Pascal (gest. 1662). Zu einer großen Vollkommenheit brachte man es in der Kunst, elegante Briefe zu schreiben; schon Balzac und Voiture sind mit Recht darin hochberühmt; ihnen weit voran steht jedoch die Marquise de Sévigné (gest. 1696), deren Briefe wegen der Zartheit und Natürlichkeit der Empfindung, der frischen und geistvollen Darstellung und des interessanten Inhalts zu den Meisterwerken des Jahrhunderts gehören. Der Kritiker von Profession in dieser Periode war Saint-Evremond (gest. 1703); seine satirischen Schriften und geistreichen Briefe wurden eifrig in der guten Gesellschaft kolportiert, und seine feinsinnigen Urteile (z. B. in dem Streit über die "Alten und Modernen" zwischen Boileau u. Ch. Perrault) galten als Orakel.

Das 18. Jahrhundert.

Die Richtigkeit des Grundsatzes, daß die Geschichte der Sitten Hand in Hand gehe mit der Geschichte der Litteratur, tritt in keinem Zeitalter schärfer hervor als in dem von Ludwig XV. bis zur Revolution, das sich selbst mit Ostentation das philosophische genannt hat. Mit der Zeit der Regentschaft traten in der geistigen Entwickelung Frankreichs immer mehr ein überwiegendes Streben nach dem unmittelbar Nützlichen, eine oft selbstsüchtige Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und eine alles verhöhnende Frivolität hervor. Das Beispiel des Regenten ward gefährlich für die Sitten des französischen Hofs, und die Sittenverderbnis des Hofs wirkte nachteilig auf die Nation. Die fest gewurzelten Kunstansichten unterstützten treulich diese sittlichen Zustände, um auf den Verfall der Litteratur hinzuwirken. Das Vorurteil der Nation, daß sie die höchste Stufe der Poesie erreicht und alle übrigen Leistungen der ältern und neuern Zeit weit hinter sich gelassen habe, konnte nur schädlich wirken. Ludwig XV. fürchtete talentvolle Schriftsteller und behauptete, sie würden die Monarchie zu Grunde richten; er meinte, in einem gut organisierten Staat sollten eigentlich nur 7-8 Schriftsteller unter spezieller Aufsicht der Regierung schreiben dürfen. Vom Hofe vertrieben, suchte nun das litterarische Leben ein Asyl in den Salons, die bisher nur als Nebensonnen betrachtet worden waren, und geriet so abermals in eine der Poesie nicht günstige Sphäre. Die wichtigsten dieser glänzenden Vereinigungspunkte waren die Salons der Mad. Geoffrin, der Marquise Du Deffand, des Fräul. Lespinasse, des Barons Holbach u. a. Die zunehmende Sittenverderbnis bei stets festgehaltenem Schein des Anstandes, die oberflächlichsten, besonders durch die Encyklopädisten verbreiteten Ansichten über Philosophie, die sich zum vollendeten Materialismus und Atheismus herausbildete, über Moral, Religion und Politik äußerten ihren zerstörenden Einfluß auch auf die Poesie; es trat die Herrschaft des Skeptizismus ein, der sich in der Litteratur zunächst in den Angriffen gegen die Alten äußerte.

Der vollkommenste Repräsentant dieser Zeit ist Voltaire (1694-1778), dessen universaler Geist sich in den verschiedensten Zweigen der Litteratur, wenn auch nicht überall mit gleichem Glück versuchte. Seine Tragödien, Epen und geschichtlichen Werke, seine zahlreichen philosophischen Schriften, Romane, Satiren, Briefe etc. haben auf die f. L. einen ungeheuern Einfluß ausgeübt. Hat Voltaire auch den Unglauben und die Verachtung jeder positiven Religion verbreiten helfen, so darf doch nicht vergessen werden, daß er auch stets der Vorkämpfer religiöser Duldung, der mutige Verteidiger der Gerechtigkeit und Menschlichkeit gegen ihre Feinde war, und daß sein alles durchdringender Verstand in Verbindung mit dem feinsten, geläutertsten Geschmack selbst da, wo sein eignes Kunstvermögen nicht ausreichte, um mustergültig zu sein, der Litteratur ihre Wege und Ziele wies. Sein geistiger Antipode, der tief fühlende J. J. Rousseau (1712-78), wurde zwar von seinen Zeitgenossen als ein geistiger Sonderling betrachtet; doch wirkte die von ihm ausgegangene Proklamation der Menschenrechte nicht wenig zu dem gewaltigen Umsturz der sozialen und litterarischen Zustände in Frankreich und Europa mit; den Grundgedanken aller seiner Werke finden wir in der Verherrlichung der ursprünglichen Menschennatur (s. unten, Philosophie). An diese beiden Pole schließt sich Montesquieu (1689-1755), durch dessen unsterbliches Werk "Esprit des lois" die Staatswissenschaft zur Lieblingsbeschäftigung des Publikums erhoben wurde. -

Die epische Dichtung weist auch in dieser Periode wenig Gelungenes auf: Voltaires "Henriade" ist ein frostiges, langweiliges Gedicht und seine "Pucelle d'Orléans" eine schamlose Parodie, deren Cynismus allerdings von Parny in seiner "Guerre des dieux anciens et modernes" (1799) noch übertroffen wird; Anspruch auf Beachtung hat allein das komische Heldengedicht "Vert-Vert" von Gresset (gest. 1777). Die mutwillige poetische Erzählung wurde während dieses Zeitraums mit besonderer Vorliebe kultiviert; Vortreffliches leisteten vor andern Voltaire, Alexis Piron (gest. 1773), Parny und sein Freund Bertin (gest. 1790), namentlich aber der galante Abbé Grécourt (1684 bis 1743). Vorzügliche Romanzen dichteten de Moncrif (gest. 1770) und der Herzog de la Vallière (gest. 1780). In dem Idyll, für welches der Deutsche Geßner Vorbild ward, waren am glücklichsten Léonard (gest. 1793) und Berquin (gest. 1791), der in seinem "Ami des enfants" zugleich eine der vorzüglichsten französischen Jugendschriften lieferte. -

Die Lyrik blieb in ihrem gewohnten Geleise. Le Franc de Pompignan (gest. 1784) möchte neben Ecouchard Lebrun, genannt "Lebrun-Pindare" (gest. 1807), der einzige sein, welcher sich in seinen religiösen Oden durch edles Gefühl und bilderreiche Sprache über das Gewöhnliche erhob. Des jüngern Racine (gest. 1763) Oden sind steif oder leiden an affektierter Begeisterung. Die meisten Dichter, besonders Voltaire, der schon genannte Piron und Panard (gest. 1765), machten ihrem Witz in sogen. flüchtigen Poesien (poésies fugitives) Luft. Von den eigentlichen Liederdichtern (chansonniers) waren die vorzüglichsten: Panard (gest. 1765), Charles Collé (gest. 1783) und Boufflers (gest. 1815), der sich durch die Anmut und Laune seiner Lieder den Namen Chansonnier de la France verdiente. In der Elegie, welche jedoch gewöhnlich in den Ton der Epistel hinüberspielte, versuchten sich C. J. ^[Claude-Joseph] Dorat, der üppig-weiche Pezay, Parny, Madame