Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gedächtnis

988

Gedächtnis.

wecken im stande sind, wenn wir uns z. B. lange vergeblich auf einen Namen oder auf eine Thatsache besinnen, die uns doch später einfallen oder durch eine zweite Person zurückgerufen werden können. Erst wenn der Eindruck ganz verblaßt ist, können wir von einem wirklichen Vergessen sprechen. Sehr fest pflegen Eindrücke zu haften, die sich unter gleichzeitigen starken Gemütsbewegungen einprägten, und daraus entstehen häufig Erinnerungen, die man gern vergessen möchte, aber nicht vergessen kann. Die Vorzüge eines guten Gedächtnisses bestehen in der Leichtigkeit, die zur Aneignung des zu Behaltenden keiner öftern Wiederholung, noch künstlicher Mittel bedarf; in der Zuverlässigkeit, d. h. in der Treue unveränderten Wiedergebens der Vorstellungen; in der Dauerhaftigkeit, durch welche das Gemerkte auch für längere Zeit gesichert wird; endlich in der Dienstbarkeit, vermöge deren das G. auf Verlangen des Willens und bei gegebenem Anlaß ohne langes Besinnen das Gewünschte reproduziert. Ein solches G. nennt man ein "gutes", "treues", "sicheres" G., während man von einem "schwachen" G. spricht, wenn die eben angegebenen Merkmale fehlen. Die Erscheinung, daß das G. nicht bei jedem ein und dasselbe ist, daß der eine Namen, der andre Zahlen, der dritte Sachen etc. (daher Namen-, Zahlen-, Sachengedächtnis), und zwar bestimmte Sachen und Namen, leichter merkt, erklärt sich teils aus der Art und Weise, wie beim Auffassen sich die Vorstellungsreihen gebildet und miteinander verknüpft haben, vor allem aber aus der Aufmerksamkeit und dem Interesse für bestimmte Gegenstände, durch welche das G. mehr ausgebildet und empfänglicher wird. Daher die Erfahrung, daß jeder das am leichtesten merkt, was mit seinen Lieblingsbeschäftigungen, mit seinem Berufskreis etc. zusammenhängt, während äußere Vorgänge, die unsre Aufmerksamkeit nicht erregen, spurlos an uns vorübergehen, was auch geschieht, wenn das klare Bewußtsein einer Person durch Krankheitszustände, Rausch etc. herabgemindert ist. Das bewußte G. ist für das geistige Leben des Einzelnen, was die Geschichte für jenes der Menschheit; ohne dasselbe wäre ein fortlaufender Faden stetiger Geistes- und Kulturentwickelung unmöglich. Dasselbe wird als allgemein-menschliche Anlage, aber als bildungsfähig, betrachtet. Selbst dem Schwachkopf muten wir zu, daß er eine gewisse Summe von Kenntnissen behalte; wer nicht im stande ist, zu urteilen und zu schaffen, soll wenigstens merken. Während dies aber dem einen schwerer wird, erregt der andre durch sein vorzügliches G. Bewunderung, obgleich dies noch keine besondere Art geistiger Begabung erweist. Im Deutschen gebraucht man für das gedächtnismäßige Lernen den Ausdruck auswendig lernen, womit angedeutet zu werden scheint, daß die bloß auf diese Art aufgefaßten und nicht mit Hilfe der eignen Denkkraft verarbeiteten Vorstellungen gleichsam nur auf der Oberfläche haften und nicht einmal ein volles Verständnis voraussetzen, wie z. B. Tiere durch bloße Klangnachahmung einzelne Worte und Sätze nachsprechen lernen. Beispiele von ausgezeichneter Gedächtniskraft sind: Themistokles, der die Namen von 20,000 athenischen Bürgern kannte; Scaliger, der den Homer in 21 Tagen auswendig lernte; Mezzofanti, der 58 Sprachen verstand; Leibniz und Euler, welche die Äneide, Hugo Grotius, welcher das ganze Corpus juris im Kopf hatte; die Mathematiker Wallis und Dase, welche lange Zahlenreihen nach einmaligem Ansehen oder Anhören zu merken und schwierige Rechnungsoperationen, wie das Ausziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln aus Zahlen mit 50 und mehr Zifferstellen, im Kopf mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu vollziehen im stande waren. Anweisung zur Erleichterung der gedächtnismäßigen Auffassung gibt die Mnemotechnik oder Mnemonik (s. d.).

Das G. ist, wie alle geistigen Thätigkeiten, gewissen Schwankungen und Erkrankungen unterworfen, von denen die Gedächtnisschwäche (griech. Amnesie) die wichtigste, weil am häufigsten auftretende ist. Sie kommt bei geistig schlecht beanlagten Personen und Idioten gewissermaßen angeboren vor; überaus häufig beruht aber der Verlust der Erinnerung auf einer nachweisbaren Erkrankung des Seelenorgans und zwar der grauen Rindensubstanz des Gehirns, in welcher deshalb mehrere Physiologen die Erinnerungsbilder der verschiedenen Sinnessphären lokalisiert annehmen. Bei herdweiser Erkrankung derselben, z. B. bei Schlaganfällen oder Vereiterungen, geht zuweilen nur ein Teil der Erinnerung, z. B. bestimmte Redeteile oder die Bedeutung einzelner Wörter, verloren (vgl. Aphasie), und diese partielle Gedächtnisschwäche ist mitunter heilbar; auch bei der Melancholie, bei Tobsucht und andern Geisteskrankheiten kehrt die Erinnerung wieder zurück. Dauernd wird die Gedächtnisschwäche bei greisen Personen, welche namentlich Erlebnisse der letzten Jahre leicht aus dem Gedächtnisschatz verlieren, während nicht selten Bilder aus früher Jugendzeit noch in alter Lebendigkeit erhalten sind. Hier wie beim Schwachsinn und Blödsinn liegt der Gedächtnisschwäche unheilbarer Gehirnschwund (s. d.) zu Grunde. Verschwindet das G. aus frühern Zeiten gänzlich, so erfolgt damit eine Unterbrechung des Zusammenhanges der geistigen Individualität, und die betreffende Person kann sich für eine ganz andre halten, z. B. für eine solche, für die sie sich früher lebhaft interessiert hat. Besonders merkwürdig sind die schon von Haller, dem ältern Darwin und von vielen neuern Ärzten beobachteten Fälle von periodischer Amnesie, die ein alternierendes Bewußtsein zur Folge haben, d. h. von zweierlei miteinander abwechselnden Zuständen des geistigen Lebens, die gegenseitig keine Erinnerungen miteinander gemein haben. Von solchen Zufällen heimgesuchte Personen führen ein Doppelleben, in welchem hypnotische Zustände mit wachen Perioden abwechseln, ohne daß ein Faden der Erinnerung diese beiden Phasen ihres geistigen Daseins miteinander verknüpfte. Sie erinnern sich nur während der nächsten Anfälle, was sie in den frühern gethan, gedacht und erfahren haben, nicht in den dazwischenliegenden wachen Zuständen. Als Ursache hat man ein Alternieren der Geistesthätigkeit in den beiden Hemisphären des Großhirns angenommen. Einen andern anormalen, aber von vielen Beobachtern beschriebenen Zufall bildet die plötzliche Wiederkehr ganzer Bestandteile der verschwundenen Erinnerung in bestimmten Krankheiten, die eine Erregung bestimmter Gehirnteile zur Folge haben. Sogar gänzlich verlorne Sprachfähigkeiten sollen in derartigen Fällen wieder aufgelebt sein. Hierher gehört auch die Erinnerungsflut bei künstlicher Erregung des Organs durch erregende oder narkotische Genußmittel, wie Wein, Opium oder Haschisch. Vgl. J. ^[Johannes] Huber, Das G. (Münch. 1878); E. Hering, über das G. als eine allgemeine Funktion der lebenden Materie (Wien 1870); Forel, Das G. und seine Abnormitäten (Zürich 1885); Ebbinghaus, Das G., Untersuchungen zur experimentellen Psychologie (Leipz. 1885); Gratacap, Théorie de la mémoire (Par. 1866); Ribot, Les maladies de la mémoire (das. 1883).