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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Haare

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Haare (Geschichte der Haartrachten).

Schultern herabfielen. Die zwei letzten Jahrhunderte des Mittelalters zeigen in der Haartracht beider Geschlechter die größte Mannigfaltigkeit. Die ehrbaren Männer trugen es kurz geschnitten, später auch lang herabhängend oder auch gekräuselt; die Frauen seit der Mitte des 14. Jahrh. stets mit einer der damals üblichen Kopfbedeckungen. Gänzliche Kürzung des Haars der Männer wurde zwar von Karl VII. in Frankreich eingeführt (vgl. Kalotte), scheint aber erst Ende des 15. Jahrh. allgemein geworden zu sein. Auch die Landsknechte schoren das Haar möglichst kurz (s. Tafel "Kostüme II", Fig. 10). Die Frauen dagegen beharrten dabei, es im Nacken aufzubinden und mit einer Haarhaube zu bedecken (s. Tafel "Kostüme II", Fig. 4, 7 u. 9.) In der Renaissancezeit kämmten die Männer das Haar über die Stirn und schnitten es gerade ab (Kolbe). Unter Ludwig XIV. entstand in Beziehung auf die Haartracht eine Revolution in ganz Europa. Man ordnete das Haar in einen Wulst von Locken, Knoten, Buckeln u. dgl., und da das eigne Haar nun nicht mehr dazu ausreichte, so kamen die Perücken nicht nur in allgemeinen Gebrauch, sondern man befestigte sogar noch steife Kissen auf dem Kopf, um die erforderliche Turmhöhe der Frisur erreichen zu können (s. Tafel "Kostüme III", Fig. 7, und den Artikel "Perücke"). Gleichzeitig ward der Puder allgemein. Trugen auch die Damen keine Perücken, so waren ihre Haargebäude doch nicht weniger ungeheuer und dabei so mühsam, daß der Vorabend eines Festes zum Aufbau der Frisur angewendet werden und die Frisierte die Nacht im Lehnstuhl zubringen mußte (vgl. Fontange). Durch die französische Revolution ward auch die Tyrannei des Friseurs gestürzt, und mit den veralteten Staatsformen fielen auch die Perücken, so daß die Männer bald allgemein kurzes Haar trugen, wie dies noch heute in ganz Europa der Fall ist. Die Frauen dagegen suchten den Haarputz der Römerinnen auf einige Zeit wieder hervor und umgaben dann die Stirn mit Löckchen (s. Taf. "Kostüme III", Fig. 14), während das übrige Haar im Nacken zusammengeschlagen wurde oder im Chignon herabhing. Nur kurze Zeit trugen auch die Frauen kurzes Haar à la Titus (s. Tituskopf), eine Mode, die gegenwärtig wiedergekehrt ist; dann folgten die im Nacken herabwallenden Locken à l'enfant, und das lange Haar trat von neuem in seine Rechte. Wieder aufgebunden, ward es in möglichst breite Flechten gebracht, welche kranzartig auf dem Kopf lagen, während an beiden Seiten an den Schläfen ein wahrer Lockenwald prangte. Riesige Kämme von zierlicher Arbeit ragten darüber empor, und Diademe, Perlen, Blumen etc. gruppierten sich dazwischen. Die sogen. Apolloschleifen sowie der nochmalige Versuch, den griechischen Haarputz wieder einzuführen, bildeten den Übergang zu größerer Einfachheit, welche den modernen Frisuren Platz machen mußte, die an Extravaganz alles Frühere übertrafen und weder einen bestimmten Charakter noch regelmäßige Formen darboten. Ungeheure Chignons und Biberschwänze wechselten mit scheinbar zerzaustem Haar und Wäldern von falschen Locken, und erst neuerdings scheint man zu einer natürlichern Haartracht zurückkehren zu wollen, die freilich ebenso wie die weibliche Tracht dem raschen Wechsel der Mode unterworfen ist. Weit stabiler ist der Haarputz bei den außereuropäischen Völkern. Während auf der untersten Kulturstufe die Männer durch ein mähnenartiges Herabwallen des langen Haars sich meist ein furchtbares Ansehen zu geben suchen, tragen die Frauen das Haar häufig kurz oder geflochten oder in einen Wulst zusammengerollt. Die Araberinnen teilen das Haar in unzählige kleine Flechten, die sie mit Goldfäden, Perlenschnüren, Bändern etc. durchziehen und mit einem leichten Turban bedecken. Die Araber tragen das Haar kurz. Die Chinesen und Japaner lassen es bis auf einen kleinen Büschel am Wirbel abscheren; ihre Frauen kämmen es von allen Seiten auf die Mitte des Kopfes zusammen und schmücken den zierlich geordneten Büschel mit Blumen, Nadeln und Kämmen. Doch beginnt hier die europäische Zivilisation die alte Sitte zu verdrängen. Die Türken und Perser scheren sich das Haupt zum Teil; die Frauen ordnen das Haar in lange Flechten, die sie durch seidene von gleicher

^[Abb.: Fig. 1-8. Griechische Haartrachten. Fig. 9 und 10. Römische Haartrachten.]