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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hegel

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Hegel (Georg Wilhelm Friedrich).

verfassung" schrieb, und folgte 1818 dem Ruf als Professor der Philosophie nach Berlin, wo sich bald ein weiter Zuhörerkreis, darunter Männer aus allen gebildeten Ständen, um ihn sammelte. Seine "Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft" (Berl. 1820, 3. Aufl. 1854) trugen dazu bei, seiner Philosophie in Deutschland Anerkennung zu verschaffen, und die 1827 von ihm in Gemeinschaft mit mehreren seiner Anhänger gegründeten "Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik" wurden ein wirksames Organ für die Verbreitung seiner auch von der damaligen Staatsgewalt begünstigten Lehre. Mit einer neuen Ausgabe seiner Werke beschäftigt, starb er 14. Nov. 1831 an der Cholera. Von mehreren seiner Schüler wurde die Herausgabe seiner sämtlichen Werke (Berl. 1834-45, 18 Bde.) besorgt. Eine pietätvolle Biographie Hegels verfaßte K. Rosenkranz (Berl. 1844). Am 3. Juni 1871 wurde ihm auf dem Hegelplatz zu Berlin ein Denkmal errichtet.

Hegels Philosophie ist mit Recht eine geistige Macht genannt worden und hat die ganze Atmosphäre deutscher Bildung und (auch schönwissenschaftlicher) Litteratur seit der Julirevolution in durchgreifender Weise bestimmt. Dieselbe ist jedoch sowenig wie die ihr an weitreichendem Einfluß im 18. Jahrh. ebenbürtige und auch sonst in manchen Punkten (z. B. in ihrer bestechenden Systematik) verwandte Philosophie Wolfs als ein Werk ihrer Urheber anzusehen, vielmehr, wie diese als die Vollendung des von Leibniz, dem ersten deutschen Originalphilosophen, eingeschlagenen Wegs, so als die reifste Frucht des einen der beiden von Kant zuerst angebahnten und seinen Nachfolgern zur Wahl hinterlassenen Wege, des idealistischen, zu betrachten. Um von derselben das (keineswegs leichte) richtige Verständnis zu gewinnen, muß sie daher im genauen Zusammenhang mit ihren Vorgängerinnen bis auf Kant betrachtet und dabei das H. Eigentümliche von dem ihm mit seinen Vorgängern Gemeinsamen gesondert werden. Als Kant, um zur Erkenntnis zu gelangen, den jenem seiner Vorgänger entgegengesetzten Weg einschlug und die Erkenntnis, statt sie, wie bisher, als Wirkung des Einflusses der Dinge (des Objekts) auf den Vorstellenden (das Subjekt der Erkenntnis) anzusehen, vielmehr als Ausfluß, d. h. als Folge der Organisation, des Erkenntnisvermögens betrachtete, war die Wendung, welche schließlich zur Philosophie Hegels führte, angebahnt. Das Erkenntnisvermögen verhielt sich seitdem zur wirklichen Erkenntnis wie nach Aristoteles das Mögliche zum Wirklichen, der Keim zur Pflanze, die Anlage zu ihrer Entfaltung, Involution zur Evolution. Bei Kant trat diese Konsequenz noch nicht vollständig hervor, weil nach ihm das Erkenntnisvermögen nicht die ganze Anlage der künftigen Erkenntnis enthielt, sondern dazu der Ergänzung durch einen äußern Faktor, das Ding an sich, bedurfte. Dieselbe lag im Erkenntnisvermögen zwar der Form, keineswegs aber dem Stoff nach vorgebildet; das "Inventar der reinen Vernunft", welches Kant aufzunehmen unternahm und welches außer den reinen Formen der sinnlichen Anschauung (Raum und Zeit) auch die reinen Verstandes- und ebensolchen Vernunftformen (Kategorien und Ideen) umfaßte, erstreckte sich nur über den subjektiven (von innen), keineswegs über den objektiven (vom Ding an sich stammenden) Faktor der Erkenntnis. Mit dem Hinwegfall des Dinges an sich, welchen nach Schulze-Änesidemus' Vorgang zuerst der subjektive Idealismus Fichtes ins Werk setzte, fiel der Grund dieser Beschränkung hinweg. Das Erkenntnisvermögen, die "reine Vernunft", umfaßte in sich von jetzt an die gesamte Anlage aller künftigen Erkenntnis; das "Inventar" derselben erstreckte sich, nachdem der objektive Faktor (das Ding an sich) beseitigt war, auf die gesamte Erkenntnis. Die reine Vernunft (das Erkenntnisvermögen) trug die gesamte Erkenntnis dem Keim, der Anlage, der Möglichkeit nach in sich, und es kam nur darauf an, ihren implizite enthaltenen (in ihr gleichsam eingewickelten) Inhalt zu explizieren (aus ihr gleichsam herauszuwickeln).

Daß zu diesem Übergang aus der Anlage zur Entfaltung, aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit Bewegung erforderlich sei, hatte schon Aristoteles gelehrt. Es kam darauf an, ob zunächst diese Heraussetzung des im Keim Enthaltenen ans Tageslicht (des Bewußtseins) versucht oder das von Kant angestrebte "Inventar der reinen Vernunft", die Inhaltsangabe des Keims, zum Abschluß gebracht werden sollte. Ersteres haben Fichte und Schelling, letzteres H. gethan, welcher dadurch als Vollender des von Kant betretenen Wegs in der Richtung des Idealismus erscheint. Fichte führte in der Wissenschaftslehre den Gedanken durch, daß das gesamte Erkenntnisobjekt nur die Gesamtheit der (unbewußten) Thaten des Erkenntnissubjekts sei, welches in allen Objekten sich selbst setze und sich in denselben, als seinen eignen Setzungen, wieder erkenne, oder nach Schillers treffendem Ausdruck, "daß die Welt ein Fangball sei, den das Ich mit einer Hand wirft und mit der andern wieder fängt". Schelling erblickte in der Natur den Inbegriff der dem Ich unbewußten Setzungen des Ichs, d. h. der in der Natur thätigen, aber schlummernden Vernunft, der träumenden "Weltseele", welche bestimmt ist, zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt, "Geist" und am Ende der die Stufen des bewußtlosen Vernunftprozesses in der Natur als bewußter Vernunftprozeß wiederholenden Weltgeschichte "Gott" zu "werden". Nach der Meinung beider sollte sich dieser Selbstverwirklichungsprozeß der nach Fichte im Ich, nach Schelling im Absoluten enthaltenen Möglichkeit in drei Stufen abwickeln, deren erste die unbewußte Setzung (Thesis), die zweite die bewußte Entgegensetzung (Antithesis) und die dritte die gleichfalls bewußte Ineinssetzung des Setzenden und des durch dasselbe Gesetzten darstellen, deren Inhalt (der im Ich, im Absoluten, vorgebildete Keim) aber auf allen der nämliche sein sollte. Auch diese Dreigliederung des Fortschritts hat H. mit ihnen gemein, wenngleich er jene Stadien abweichend benannt und an die Stelle des Sichsetzens und Wiederaufhebens, welches den Schein einer spontanen Thätigkeit des "Keims" (des Ichs oder des Absoluten) erzeugt, die notwendige Fortbewegung desselben (der "reinen Vernunft") von einem zum andern (vom An-sich durch das Für-sich zum An-und-für-sich; Idee, Natur, Geist) gesetzt hat. Den "Keim", welchen Fichte "Ich", Schelling "das Absolute" genannt hatte, bezeichnete H. wieder, wie Kant, als "reine (oder absolute) Vernunft" (Idee) und nahm nach Beseitigung des Dinges an sich ebensowenig wie seine Vorgänger Anstand, zu erklären, daß (wie Fichte vom Ich, Schelling vom Absoluten behauptete) nunmehr die Vernunft (das Denken) das einzige wahrhaft Wirkliche (Sein) und demnach nicht nur alles Wirkliche notwendig Vernunft, sondern auch die Vernunft notwendig wirklich sei. Dieser "Keim", die Vernunft, ist die einzige "Substanz", welche demnach keine reale, sondern eine rein ideale und das "Logische", folglich die Substanz von allem ist (Panlogismus). Diese "Substanz zum Subjekt", d. h. die ursprünglich bewußtlose Vernunft zur selbst-^[folgende Seite]