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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Irreparabel; Irresein; Irresistibel; Irresolut; Irrespirabel

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Irreparabel - Irrespirabel.

das gemischte System beibehalten wurde, auch nachdem Damerow mit seinen "relativ-verbundenen Heil- und Pflegeanstalten" hervorgetreten war und einige Orte dies System acceptiert hatten. Im allgemeinen haben diese Systeme weniger Erfolg gehabt als einige fremdländische, die teils aus finanziellen, teils aus wissenschaftlich-praktischen Motiven in Vorschlag gebracht wurden. Die Kosten für die Irrenpflege haben nämlich eine bedenkliche Höhe erreicht (in den fünf neuen Anstalten der Rheinprovinz beträgt das Baukapital 12,000 Mk. pro Kopf), und die Beobachtungen in den gemischten Anstalten ergeben, daß 35-45 Proz. der Kranken bei geringerer Freiheitsbeschränkung viel besser gedeihen als bei der bisherigen Behandlung. Bei dem englischen Cottagesystem, welches in Deutschland nur in Bunzlau nachgeahmt wurde, werden kleine, getrennte Häuser (cottages) in einfachster, ländlicher Bauart außerhalb der Ringmauern der Anstalt, aber doch noch auf dem Terrain derselben zur Aufnahme von ruhigen Kranken errichtet, welche sich hier unter Aufsicht zuverlässiger Dienstleute mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigen. In dem belgischen Dorf Gheel (s. d.) besteht, angeblich seit dem 7. Jahrh., eine Verpflegung ruhiger, ungefährlicher Irren in einzelnen Familien, während eine geschlossene Anstalt (infirmerie) die Behandlung der Kranken überwacht, das Maß der von ihnen zu fordernden Arbeit normiert und sie, sobald und solange es aus irgend welchen Gründen nötig wird, aufnimmt. Eine Nachahmung dieses Systems ist offenbar nur in einer spezifischen Ackerbaubevölkerung möglich und scheitert auch dort, wenn nicht eine eigentümliche Befähigung vorhanden ist. In Schottland hat man 30-40 Proz. aller Irren in Familienpflege gegeben, und in Ellen (Bremen) besteht seit 1779 eine ähnliche Einrichtung. Auch die Staatsanstalt Illenau in Baden bedient sich der Familienpflege gleichsam als Übergang zur völligen Entlassung der Rekonvaleszenten. Bei dem System der agrikolen Kolonie, zuerst 1847 von der Privatirrenanstalt der Gebrüder Labitte in Clermont ausgeführt, werben ruhige, ungefährliche Kranke auf einem Ökonomiehof untergebracht und bei dem größten Maß von Freiheit mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Sicherheitsvorrichtungen werden durchaus vermieden, die Kolonie steht aber mit einer geschlossenen Anstalt in Verbindung, in welche Irre mit akuten Aufregungen und körperlichen Krankheiten sofort zurückversetzt werden. Dies System hat in Einum (Hannover), Zschadraß (Sachsen), Alt-Scherbitz bei Schkeuditz (Prov. Sachsen) Anwendung gefunden und sehr günstige Resultate ergeben. Für durchaus ruhige, ungefährliche Irre, die bei siechem Körperzustand nicht mehr arbeitsfähig sind, hat man Irrensiechenhäuser gebaut, bei welchen die kostspielige Einrichtung der eigentlichen I. fortfällt. Besondere Schwierigkeiten bietet die Unterbringung der irren Verbrecher, gegen deren Aufnahme sowohl die I. als die Zuchthäuser protestieren. In Irland besteht seit 1850 eine Anstalt für irre Verbrecher in Dundram, welche 150-200 Insassen, darunter ca. 50 Mörder, enthält. Die 1873 errichtete (einzige deutsche?) Heilanstalt für irre Verbrecher in Waldheim (Sachsen) gelangte zu dem Ergebnis, daß die größere Mehrzahl der irren Verbrecher recht gut in gewöhnlichen I. hätte verpflegt werden können; daß die Zahl derjenigen, die besonders strenger Beaufsichtigung bedürfen und also besser ins Zuchthaus gehören, äußerst gering war; daß ferner eine solche Irrenabteilung für ein Zuchthaus eine große Last ist, und daß die Simulationen in derselben sich bedeutend vermehren; endlich daß in der Mehrzahl der Fälle die Genesungen der Neuerkrankten in der Irrenabteilung des Zuchthauses ebensogut zu ermöglichen sind wie in I., daß aber in vielen Fällen der fortgesetzte Aufenthalt im Zuchthaus die Genesung beeinträchtigt, indem die Halluzinationen gesteigert, die Wahnideen befestigt werden. Als besondere Form der I. sind noch die psychiatrischen Kliniken an den Universitäten zu nennen, welche aus dem dringenden Bedürfnis und dem gerechtfertigten Bestreben, die Ärzte mehr, als früher geschehen konnte, in der Psychiatrie zu belehren, hervorgegangen sind. Allgemeine Anerkennung haben in neuester Zeit die Heilanstalten für Nervenkranke gesunden, welche die Behandlung aller chronischen Neurosen und leichten beginnenden Psychosen, die noch nicht in die I. gehören, übernehmen.

Die bei weitem größte Zahl der I. sind Staats- oder öffentliche Anstalten, errichtet von der Staatsregierung, von Provinzialverbänden (Ständen) und größern Kommunen. Diesen gegenüber stehen die Privatirrenanstalten, gegründet von einzelnen Personen oder von Genossenschaften, welche sich der Krankenpflege widmen. Diese letztern Anstalten bedürfen einer Konzession von der Verwaltungsbehörde und stehen wie die öffentlichen unter der Kontrolle der höhern Verwaltungsbehörde. Die Statistik der Geisteskranken weist eine bedeutende Vermehrung der Irren nach, ganz besonders stark aber ist die Zahl der in I. Heilung Suchenden angewachsen und zwar aus dem einfachen Grund, weil sich die Überzeugung immer allgemeiner Bahn gebrochen hat, daß die Irren in den in neuerer Zeit so sehr vervollkommten I. vielmehr Aussicht auf Heilung haben als bei der sorgsamsten Pflege in der eignen Familie. In Frankreich stieg die Bevölkerungsziffer von 1836 bis 1861 um 9,47, die Zahl der in I. befindlichen Kranken um 172 Proz., in England steht einer Bevölkerungszunahme von 45 Proz. (1844-1878) eine Zunahme der Irren in den Anstalten von 250 Proz. gegenüber. In Preußen ergab die Statistik folgende Zahlen:

^[Liste]

1871 1880

Geisteskranke überhaupt 55043 66345

Auf 1000 Einwohner Geisteskranke 22,4 24,3

Geisteskranke in Irrenanstalten 11760 18894

Von 1000 Irren sind in Anstalten 21,4 28,5

Am 1. Jan. 1885 waren 23,547 Geisteskranke in I. untergebracht. Weitere Angaben s. im Art. Geisteskrankheiten. Vgl. Damerow, Die relative Verbindung der Irrenheil- und Pflegeanstalten (Leipz. 1840); Brandes, Die Irrenkolonien (Hannov. 1865); Erlenmeyer, Übersicht der öffentlichen und privaten Irren- und Idiotenanstalten in Deutschland und Österreich (2. Aufl., Neuwied 1875-76); Derselbe, Übersicht der schweizerischen Irren- u. Idiotenanstalten (4. Aufl., das. 1877); Derselbe, Die freie Behandlung der Irren in detachierten Kolonien (das. 1869); Ruëdy ^[richtig: Rüedy], Gheel, oder Kolonie und Asyl (Bern 1874), und andre Schriften über Gheel (s. d.); Lähr, Die Heil- und Pflegeanstalten für Psychisch-Kranke des deutschen Sprachgebiets (2. Aufl., Berl. 1882); Guttstadt, Krankenhaus-Lexikon für das Königreich Preußen (das. 1886).

Irreparabel (lat.), unwiederherstellbar, unersetzlich; irreparabile tempus, die unwiederbringliche Zeit.

Irresein, allgemein jede Form von Geisteskrankheit (s. d.).

Irresistibel (neulat.), unwiderstehlich.

Irresolut (neulat.), unentschlossen, unschlüssig.

Irrespirabel (spätlat.), zum Einatmen ungeeignet, bezeichnet sowohl solche Gase oder Luftarten, welche