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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Landwirtschaft

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Landwirtschaft (Entwickelung seit Thaer).

Schule die höchste Bedeutung zuerkannt wurde. Allerwärts errichtete man nun Lehrstühle der L. an den Universitäten, gründete zuerst in der Schweiz, dann in Leipzig, Celle etc. landwirtschaftliche Gesellschaften, in welchen die bedeutendsten Männer sich dem in Achtung gekommenen Gewerbe zuwandten. Eine reiche Litteratur kennzeichnet diese Periode, welche, zumal in Sachsen und Brandenburg, auch der L. sehr zugethane Fürsten kannte. Tabak, Kartoffeln und andre Hackfrüchte hatten sich verbreitet, neue Ölpflanzen und Futtergewächse Eingang gefunden; die Branntweinbrennerei, bald auch mit Kartoffeln, griff der Wirtschaft mächtig unter die Arme, die Einführung der feinwolligen Schafe in Sachsen sicherte Deutschland auf lange Zeit den alleinigen Markt in feinsten Wollen, die Geräte wurden nach englischem Muster vervollkommt, die erste "Theorie des Pflugs" ward geschrieben (v. Münchhausen); man stritt sich schon über die Vorzüge und Nachteile der Brache, die Notwendigkeit des Stallmistes u. a.; das Düngermaterial vermehrte sich durch Gips, Gründünger, Salpeter, Salz, selbst hier und da durch Knochen, Klauen, Horn, Seesand, Tang etc. Das System aber war im ganzen genommen dasselbe geblieben und nur in England im Sinn der Fruchtwechselwirtschaft vervollkommt worden. Eine neue Epoche begann, als Schubart, genannt v. Kleefeld, mit Einführung des Klees, der Runkeln und Rüben die Stallwirtschaft und den künstlichen Futterbau begründete und Trift, Hut und Brache unermüdlich und mit Erfolg bekämpfte. Fronen und Robote mußten fallen, die Dienstbarkeiten abgelöst werden, und so war es die Agrargesetzgebung Josephs II., Friedrichs d. Gr. und andrer Fürsten, welche allerwärts neues Leben weckte. Nun war der Boden zu freierer Entfaltung gewonnen, obschon erst viel später die unter dem Druck der Fremdherrschaft gereifte Agrargesetzgebung Steins den Grund zu vollkommener, dauernder Entwickelung legte und wirklich freie Bauern schuf. Die französische Revolution beseitigte die letzten Spuren mittelalterlicher Zustände und machte endlich auch die volle Befreiung des Grundeigentums zur Wahrheit. An diese Zeit knüpfen wir aber auch das Eingreifen der Naturwissenschaften, welche, wunderbar emporblühend, über das Leben der Pflanzen und Tiere Licht verbreiteten und von da ab unablässig bemüht waren, den praktischen Betrieb zu erläutern, zu modifizieren, zu rechtfertigen oder zu verurteilen. Vor Saussure, Priestley, Senebier, Ingenhouß und Davy mußten die alten Kameralisten und Empiriker bald die Segel streichen, und nun fand sich auch der Mann, welcher dies alles zu Nutz und Frommen der L. zu einem Ganzen zu verbinden wußte.

Die neuere Entwickelung der Landwirtschaft seit Albrecht Thaer.

A. Thaer ward der Begründer der Landwirtschaftslehre und der Stifter der ersten landwirtschaftlichen Lehranstalt in Celle, dann in Möglin, wo er die junge Wissenschaft, stets Hand in Hand mit der Praxis, so zu heben wußte, daß niemand mehr die veralteten, schwach begründeten Theorien auf der Universität hören wollte. Nach dem von ihm gegebenen Muster wurden allerwärts Lehranstalten errichtet, ein folgenschwerer Schritt, welcher den künftigen Beamten die Gelegenheit entzog, sich mit der L. vertraut zu machen, die Ausbildung der Landwirtschaftslehre in Verbindung mit der andrer Wissenschaften unmöglich machte und die Pfleger der Wissenschaft sowie die studierenden Landwirte dem Universitätsgeist entfremdete. In gleichem Sinn wie Thaer wirkte im Südwesten Deutschlands J. N. v. Schwerz, welcher die Lehranstalt Hohenheim 1819 einrichtete, und in Österreich J. ^[Johann] Burger als Professor der L. an der Universität in Wien. Das Wirken dieser Männer war für lange Zeit entscheidend für die Gestaltung der L., und noch heute tragen die meisten Wirtschaften den von jenen überkommenen Stempel. Bis zu Thaers Zeiten hatte man nur vage Vermutungen über das Leben der Pflanzen und ihre Nahrung; erst Wallerius hatte auf Boden, Wasser und Luft hingewiesen; Davy, Rückert und Reichhardt ließen mehr Klarheit ahnen. Die Entdeckung der Zersetzung der Kohlensäure der Luft in der Pflanze entwickelte die Kohlenstofftheorie (Saussure), wonach nur der Kohlenstoff in Betracht kam, neben dieser die Humustheorie, welche sich ausgeprägt in den Schriften von Thaer, v. Schwerz und Burger findet und maßgebend für den landwirtschaftlichen Betrieb wurde. Die Nutzanwendung dieser Theorie auf die Praxis war einfach, jedem verständlich, weil hervorgegangen und angepaßt einer mehr als tausendjährigen Erfahrung. Als Wert eines Bodens galt sein Humusgehalt, diesen in seinem Bestand zu erhalten, als die zu lösende Aufgabe, welcher man entsprochen zu haben meinte, wenn zwischen der Erschöpfung durch die Ernten und dem Ersatz durch Mist, Brache und Dreesch ein Gleichgewicht hergestellt war. Die Lehre von der Statik beschäftigte sich mit hierauf bezüglichen Berechnungen und führte, auf in der Wirklichkeit nicht existierende Voraussetzungen basiert, schließlich zu einem Labyrinth unlösbarer Rätsel, bis bessere Erkenntnis das ganze kunstvolle Gebäude über den Haufen warf. Sie führte zu der Betriebsweise, welche mit Recht den Namen der reinen Stallmistwirtschaft verdient, weil Mist der Angelpunkt war, um welchen sich alles drehte. Man muß sich diese Wirtschaftsweise als aus den Zeitverhältnissen hervorgegangen denken. Die damaligen Preise ließen die Körnerfrüchte am höchsten schätzen, und da diese, weniger als jetzt von verderblichen Krankheiten heimgesucht, die sichersten waren, so stellte man sie obenan; für Handelsgewächse war noch kein rechter Markt; die dem Merkantilsystem entlehnte Anschauung, daß diejenige Wirtschaft die vorteilhafteste sei, welche alle Bedürfnisse möglichst aus sich selbst bestreiten könne, mußte alle diejenigen Früchte zurückstellen, welche bei großen Anforderungen an Dungkraft keine oder nur wenige zu Humus werdende Rückstände lieferten. Die Viehhaltung war noch wenig lohnend; der Bedarf an Mist aber machte sie zur Notwendigkeit, daher sie hauptsächlich nur um des letztern willen geschätzt wurde. Dungzukauf hielt man für nachteilig, den ausgedehnten Verkauf von Körnern, Wolle, Fleisch, Milch u. dgl. aber für ein Zeichen rationeller Wirtschaftsführung, wenn es nur nicht an Mist fehlte. Sowenig wir jetzt noch diesen Anschauungen zustimmen dürfen, so haben sie doch damals die Wirtschaftsweise wesentlich umgestaltet; die Berechnungen führten zur Kritik der Betriebssysteme und damit zur Verbesserung der alten Dreifelder- und Feldgraswirtschaft, welche durch Aufnahme der Hackfrüchte, des Klees und der künstlichen Kleegrassaat mehr im Sinn der Annäherung an englische Fruchtwechselwirtschaft modifiziert wurden. Schubart, Thaer, v. Schwerz und Burger hatten die Summe des anderwärts gesehenen Bessern eingeführt und in ihren Wirtschaften so glänzende Beispiele des Erfolgs aufgewiesen, daß man den Gipfelpunkt der Vollkommenheit erreicht zu haben glaubte. In der Fachlitteratur, in der Gestaltung des praktischen Be-^[folgende Seite]