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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ludwig

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Ludwig (Frankreich: L. XVII., L. XVIII.).

règne de Louis XVI (2. Aufl. 1850); Jobez, La France sous Louis XVI (1877-81, 2 Bde.); Nicolardot, Journal de Louis XVI (1873).

35) L. XVII., eigentlich Karl L., zweiter Sohn des vorigen und der Marie Antoinette, geb. 27. März 1785, hieß erst Herzog von der Normandie und wurde durch das am 4. Juni 1789 erfolgte Ableben seines ältern Bruders, Ludwig Joseph, Dauphin. Nach seines Vaters Hinrichtung proklamierte ihn sein damals in Westfalen befindlicher Oheim, der Graf von Provence (später Ludwig XVIII.), als König von Frankreich, und die europäischen Mächte erkannten ihn als solchen an. Er ward anfangs mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zusammen gefangen gehalten, aber im Juli 1793 auf ausdrücklichen Befehl des Konvents unter dem Vorgeben, daß "die französische Nation für seine Erziehung sorgen wolle", den Armen seiner Mutter entrissen und einem rohen Jakobiner, dem Schuhmacher Simon, zur Aufsicht übergeben, von diesem aber physisch und geistig zu Grunde gerichtet. Gänzlich vernachlässigt und verkümmert, starb er 8. Juni 1795. Der auf die Nachricht von seiner Krankheit im Mai 1795 zu ihm geschickte Arzt Desault berichtete schon seine Unheilbarkeit, und eine Kommission, die das Gerücht von der Vergiftung des Dauphins untersuchen sollte, konstatierte den Tod aus natürlichen Ursachen auf eine gesetzlich-authentische Weise. Sein Leichnam ward 10. Juni in die gemeinsame Gruft des Begräbnisplatzes der St. Margaretenpfarrei geworfen und mit ungelöschtem Kalk beschüttet, weshalb Ludwig XVIII. 1815 vergebens Nachforschungen nach den Überresten seines Neffen anstellen ließ. Sowohl dieser Umstand als der, daß man 9. Juni 1795 (dem Tag nach Ludwigs Tod) auf der Straße von Paris nach Fontainebleau einen gewissen Aujardins, begleitet von einem etwa zehnjährigen Knaben, angehalten, tags darauf jedoch wieder freigelassen hatte, gaben später dem Gerücht einer Entführung des Sohns Ludwigs XVI. Nahrung, und es traten in der Folge mehrere falsche L. XVII. auf, zuerst Jean Marie Hervagault, der Sohn eines Schneiders zu St.-Lô, geb. 1781, der schon als 14jähriger Knabe aus dem väterlichen Haus entwich, sich eine Menge Anhänger erwarb, besonders in der Bretagne, Normandie, Champagne und Bourgogne, und 3. April 1802 vom Kriminalgericht zu Reims, als wiederholter Betrügereien schuldig, zu vierjähriger Einsperrung verurteilt und unter Napoleons I. Regierung in Bicêtre eingesperrt wurde, wo er 1812 starb. Ein zweiter falscher L., der unter dem Namen Karl von Frankreich Aufsehen erregte, war Mathurin Brumeau, geb. 1784 zu Vezins bei Cholet in dem ehemaligen Anjou, wo sein Vater Holzschuhe verfertigte. Seit 1795 einem abenteuernden Leben ergeben, wurde er endlich 1803 als Landstreicher verhaftet und ins Zuchthaus zu St.-Denis bei Paris gebracht. Von einem längern Aufenthalt in Nordamerika nach Frankreich zurückgekehrt, gab er sich hier für den Sohn Ludwigs XVI. aus, bis er deshalb eingezogen und vom Gerichtshof in Rouen zu siebenjährigem Gefängnis verurteilt ward. Nach der Julirevolution 1830 verscholl er. Der dritte falsche L. XVII., der 1833 und 1834 die öffentliche Aufmerksamkeit in hohem Grad beschäftigte, ist der sogen. Herzog von Richmont, dessen eigentlicher Name François Henri Hébert war, aus der Gegend von Rouen gebürtig. Derselbe behauptete schon 1828, daß er der Sohn Ludwigs XVI. sei. Nach der Julirevolution protestierte er gegen Ludwig Philipps Thronbesteigung in zwei "Herzog von Normandie" unterzeichneten Schreiben und suchte seine Erbansprüche durch "Mémoires" zu begründen. Die Regierung überwies den Abenteurer endlich den Assisen des Seinedepartements in Paris, die ihn 1834 zu zwölfjähriger Haft verurteilten. Etwa acht Monate später entsprang Hébert jedoch aus dem Gefängnis in Paris und gelangte mit Hilfe seiner Anhänger nach London, wo er 1845 starb. Am wahrscheinlichsten wußte sein Vorgeben der Uhrmacher Karl Wilhelm Naundorf aus Potsdam zu machen, zumal seine Gesichtszüge eine auffallende Ähnlichkeit mit denen der Bourbonen hatten. Nachdem er seit 1810 in Berlin, Spandau und Brandenburg gelebt und eine Gefängnisstrafe von drei Jahren, zu der er verurteilt worden, weil er sich für einen Bourbon ausgab, in Krossen verbüßt hatte, ging er 1833 nach Frankreich, wandte sich hier mit seinen Ansprüchen an die Kammern und die Gerichte, ward aber 1836 ausgewiesen, beschäftigte sich sodann in England mit militärischen Erfindungen und starb 10. Aug. 1845 in Delft. Seine Kinder nahmen den Namen de Bourbon an und strengten 1851 und 1874 einen vergeblichen Prozeß gegen den Grafen Chambord vor den Gerichten von Paris an. Vgl. Eckard, Mémoires historiques sur Louis XVII (Par. 1817); Beauchesne, Louis XVII, sa vie, son agonie, sa mort (13. Aufl. 1884, 2 Bde.); Nettement, Histoire populaire de Louis XVII (2. Aufl. 1876); Chantelauze, Louis XVII, son enfance, sa prison et sa mort au Temple (das. 1883, Nachtrag 1887); Bülau, Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen, Bd. 2 (Leipz. 1850).

36) L. XVIII. Stanislaus Xaver (le Désiré nannten ihn die Royalisten), König von Frankreich, vierter Sohn des Dauphins Ludwig und der Maria Josepha von Sachsen, Bruder Ludwigs XVI., geb. 17. Nov. 1755, erhielt den Titel eines Grafen von Provence. Seinen Brüdern an Geist überlegen, beschäftigte er sich mit den alten Klassikern und Philosophie, versuchte sich im Dichten und übersetzte einige Bände von Gibbons Geschichtswerk. Nach dem Regierungsantritt Ludwigs XVI. nahm er den Titel "Monsieur" an. Bei der ersten Versammlung der Notabeln 1787 spielte er als Büreaupräsident eine Hauptrolle und half den Minister Calonne stürzen, obwohl er, wie sich später herausstellte, unter dessen Ministerium 14 Mill. Livres Benefizien empfangen hatte. Beim Hereinbrechen der Revolution zog er sich zurück und ließ den König ratlos; ja, er beteiligte sich an Intrigen zur Beseitigung der Nationalversammlung, die den König kompromittierten. Er begab sich im Juni 1791 unmittelbar nach der Flucht des Königs ins Ausland, gelangte glücklich nach Brüssel und protestierte gegen die Beschlüsse der Nationalversammlung, weshalb ihn die Gesetzgebende Versammlung 16. Jan. 1792 seines Rechts auf die Regentschaft und Thronfolge für verlustig erklärte. Als bald darauf der Krieg ausbrach, schlossen sich L. und sein Bruder, der Graf von Artois, an der Spitze der Emigranten der preußischen Armee an. Auf die Nachricht von der Hinrichtung des Königs veröffentlichte er ein Manifest, in welchem er den Dauphin als Ludwig XVII. ausrief, sich selbst aber zum Regenten und den Grafen von Artois zum Generalleutnant ernannte. Zugleich verlegte er unter dem Namen eines Grafen von Lille seinen Hof nach Verona. Nach dem Tod Ludwigs XVII. (8. Juni 1795) nahm er den Königstitel an. 1796 auf Bonapartes Drohung aus Verona ausgewiesen, ging er wieder nach Deutschland; 1799 zog er sich nach dem