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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Mendelssohn-Bartholdy

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Mendelssohn-Bartholdy.

eine ununterbrochene Kette von Triumphen angesehen werden, welche er als Komponist, Virtuose, Dirigent und geistreicher, allgemein geliebter Mensch feierte. Er schuf in Leipzig ein neues musikalisches Leben, gewann für dasselbe seinen Freund Rietz, den Theoretiker Hauptmann und den Konzertmeister David und legte durch seine Thätigkeit, namentlich auch als Mitgründer des Konservatoriums (1843) und eifriger Lehrer an demselben, den Grund zu Leipzigs Weltbedeutung in der Tonkunst. 1836 wurde er Ehrendoktor der Leipziger Universität; 1837 verheiratete er sich mit Cäcilie Jeanrenaud, der Tochter eines reformierten Predigers in Frankfurt a. M.; 1841 erhielt er vom König von Sachsen den Kapellmeistertitel. Neben seiner Direktionsthätigkeit entfaltete er eine außerordentliche Produktionskraft, so daß er bis zum letztgenannten Jahr unter anderm das Klavierkonzert in D moll, den 42. und 114. Psalm, das Streichquartett in E moll, Serenade und Allegro giojoso, die Ouvertüre zu "Ruy Blas", das Klaviertrio in D moll und den "Lobgesang" vollendet hatte. Ebenfalls 1841 erhielt er von Friedrich Wilhelm IV. den Auftrag, die Musik zu Sophokleischen Tragödien zu schreiben, und brachte infolgedessen in Potsdam seine Komposition der "Antigone" zur Aufführung, Die ihm bei dieser Gelegenheit gemachten Anträge, nach Berlin überzusiedeln, vermochten indessen nicht, ihn mit dieser Stadt auszusöhnen, sowenig wie seine 1843 erfolgte Ernennung zum preußischen Generalmusikdirektor. Er fuhr vielmehr fort, seine Thätigkeit auf Leipzig zu konzentrieren, daneben wiederholte Besuche in England und bei den rheinischen Musikfesten abstattend. Das letzte Mal, daß das englische Publikum seinen Liebling festlich begrüßen konnte, war 1846 beim Musikfest in Birmingham, wo M. sein soeben beendetes Oratorium "Elias" mit unbeschreiblichem Erfolg zur Aufführung brachte. Seit seiner Rückkehr nach Leipzig litt er an nervöser Reizbarkeit, und bald traf ihn überdies durch die Nachricht vom plötzlichen Tod seiner Schwester Fanny Hensel (s. d.) ein fast vernichtender Schlag, von dem er sich nur einigermaßen zu Interlaken erholte, wo er durch den Genuß der Alpenluft zu neuer Thätigkeit erfrischt wurde. Das Oratorium "Christus", die Fragmente der Oper "Lorelei" (Text von Geibel) stammen aus jener Zeit. Aber ein Besuch in Berlin rief die nervöse Reizbarkeit von neuem hervor, welche er auch in Leipzig nicht mehr verlor. Nachdem er schon 28. Okt. von einem heftigen Nervenschlag befallen worden, starb er 4. Nov. 1847 in Leipzig. Eine würdige Totenfeier fand hier 7. Nov. statt, worauf die Leiche nach Berlin übergeführt wurde.

Durch seine Beanlagung vorwiegend auf das Gebiet der Lyrik, d. h. den Ausdruck subjektiven Fühlens und Empfindens, gewiesen, konnte M. seine künstlerische Individualität besonders in solchen Kompositionsgattungen zur Geltung bringen, welche die Seelenstimmungen am unmittelbarsten kundgeben, also im Lied und den sich demselben anschließenden Formen der Instrumentalmusik. Und wenn seine außerordentliche formale Gestaltungskraft sowie die Fülle und der Adel seiner Erfindung ihn befähigten, auch die größern Vokal- und Instrumentalformen mit souveräner Meisterschaft zu beherrschen, so sind doch seine ein- und mehrstimmigen Lieder und die unter dem Namen "Lieder ohne Worte" durch ihn eingeführte Gattung von Klavierstücken kleiner Form als der reinste Ausfluß seiner Künstlerpersönlichkeit zu bezeichnen. Ein heilsames Gegengewicht des hier zu Tage tretenden und ihn überhaupt beherrschenden Subjektivismus fand er in dem Studium der Werke alter Meister, namentlich Bachs und Händels, deren Vorbilder ihn zu seinen größten und vollendetsten Werken, den Oratorien: "Paulus" (1835) und "Elias" (1846), begeisterten. In dieser aus lyrischen, epischen und dramatischen Elementen gemischten Kunstgattung vermochte er sich zu einer bedeutenden Höhe aufzuschwingen, wogegen für das rein Dramatische seine Kräfte nicht ausreichten; und diese Lücke in seiner musikalischen Organisation war es auch, die ihm den Zugang zur Bühne verschloß, nicht etwa der Mangel an einem geeigneten Operntext, wie unter anderm die Thatsache beweist, daß der für ihn von Eduard Devrient gedichtete Text zu "Hans Heiling", dessen Brauchbarkeit und Kunstwert sich später durch Marschners Musik glänzend bewährte, von ihm als zur Komposition ungeeignet zurückgewiesen wurde. - Mit seinen großen geistlichen Chorwerken auf gleicher Höhe stehen die weltlichen, meist romantischen Inhalts, darunter obenan die Musik zum "Sommernachtstraum", zu welcher er die Ouvertüre als 14jähriger Knabe geschrieben, und die während seines Aufenthalts in Rom entstandene Goethesche "Walpurgisnacht". In diesen Arbeiten hat er noch einen Schritt über die Romantik Webers und Marschners hinaus gethan, indem er die Geisterwelt von einer ganz neuen, der neckischen und humoristischen, Seite zur sinnlichen Erscheinung bringt und zwar hauptsächlich mit Hilfe der Orchesterinstrumente, deren individuelle Leistungsfähigkeit er in noch weit ausgedehnterm Maß zu verwerten wußte als seine genannten Vorgänger. Diese Seite seiner Begabung tritt auch in seinen Orchesterwerken, den Symphonien in A moll und A dur, sowie in seinen gleichsam der Natur abgelauschten Ouvertüren: "Die Hebriden", "Meeresstille und glückliche Fahrt" glänzend zu Tage, und die verhältnismäßige Dürftigkeit der Erfindung in seinen Streichquartetten ist vornehmlich dem Umstand zuzuschreiben, daß ihm hier die Mannigfaltigkeit des instrumentalen Klanges nicht zu Gebote stand. In seinen Kompositionen für Klavier und Orgel, auf welchen beiden Instrumenten er Virtuose war, ist dieser Mangel freilich nicht zu spüren: seine Trios in D und C moll und seine Klavierkonzerte in G und D moll, endlich seine zahlreichen Präludien, Fugen und Sonaten für Orgel sind auch hinsichts der Klangfülle und Klangschönheit zu seinen Meisterwerken zu rechnen; und hierher gehört auch sein Violinkonzert, vielleicht sein genialstes Werk, insofern er damit, ohne selbst Violinspieler zu sein, ein dem Charakter und der Technik des Instruments bis ins kleinste entsprechendes Kunstwerk geschaffen hat. Ein wesentliches Merkmal aller dieser Werke ist der Zug geistiger Vornehmheit, welche M. als Mensch wie als Künstler auszeichnete; diese Eigenschaft seiner Musik öffnete ihr die Herzen aller Gebildeten, wogegen ihr eine Popularität, wie sie beispielsweise die Webersche erlangte, aus diesem Grund versagt bleiben mußte. Selbst die weitverbreiteten Lieder: "Es ist bestimmt in Gottes Rat" und "Wer hat dich, du schöner Wald" können nur in beschränktem Sinn als volkstümlich gelten. Eine Gesamtausgabe der Werke Mendelssohn-Bartholdys, von Rietz redigiert, erschien 1871-77 im Verlag von Breitkopf u. Härtel in Leipzig. Einen wertvollen Beitrag zur Kunde seines künstlerischen Strebens wie der Liebenswürdigkeit und Reinheit seines Charakters liefern seine Briefe (Bd. 1: "Reisebriefe 1830-32", Bd. 2: "Briefe 1833-47", hrsg. von seinem Bruder Paul M.; letzte Ausg. in einem Band, Leipz. 1882).