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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Mozart

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Mozart (Werke).

100 kleinere Werke für Orchester und 55 Konzerte. Eine solche Fruchtbarkeit in einem so kurzen Leben, von welchem die Reisen zwei Drittel in Anspruch genommen, ist um so bewunderungswürdiger, als M. auch übrigens durch seine Kapellmeisterpflichten und Lektionen so vielfach vom Komponieren abgezogen wurde, daß er meist nur die frühen Morgenstunden oder die Nacht dazu verwenden konnte.

M. hat sich, wie wir sahen, in allen Gattungen der musikalischen Komposition bethätigt und überall Ausgezeichnetes geleistet. Am größten aber und wahrhaft epochemachend ist seine Bedeutung auf dem Gebiet der Oper, die durch ihn vermöge der reichen Innerlichkeit, welche einen Grundzug seines Wesens bildete, eine Stufe der Vollendung erreichte, auf welcher sie sowohl die der Italiener als auch die durch Gluck veredelte große Oper der Franzosen hinter sich zurückließ. Das erste Werk, in welchem seine kunsthistorische Bedeutung als dramatischer Komponist offenbar wird, ist der "Idomeneo". Die vor diesem entstandenen, oben genannten Opern und Festspiele, selbst die in Hinsicht auf Instrumentation und dramatischen Ausdruck reifere "Finta giardiniera", sind durchaus in den herkömmlichen Formen gehalten und haben weder an sich noch für uns eine höhere Bedeutung, wiewohl die in ihnen sich offenbarende musikalische Gestaltungskraft stets zu bewundern bleibt. Auch "Idomeneo" ("Idomeneo, re di Creta ossia Ilia e Idamante") steht im ganzen noch auf dem Boden der altitalienischen Opera seria, wie schon die große Zahl der Arien andeutet sowie der Umstand, daß die Rolle des Idamante einem Kastraten bestimmt war. Aber trotz aller der bloßen Gesangsvirtuosität gemachten Zugeständnisse und neben der in der Behandlung der Recitative ersichtlichen Nachahmung der Gluckschen Muster tritt Mozarts Genius in den großartigen Chören und noch mehr in der für jene Zeit unerhört kühnen und durch feinste Charakteristik ausgezeichneten Instrumentierung bereits mächtig hervor. Erscheint M. in dieser wie auch in seinen beiden letzten italienischen Opern, "Così fan tutte" und "Titus", noch vielfach von italienischen Vorbildern abhängig, so sehen wir ihn in allen seinen übrigen dramatischen Schöpfungen durchaus neue Gebiete erobern und mit jeder folgenden ein Muster der Gattung aufstellen. Die "Entführung aus dem Serail", welche zunächst folgt, ist größernteils in der Weise und nach dem Maß des damaligen Singspiels angelegt, aber bedeutsam durch vielfach reichere Ausführung, treffende Charakteristik und Innigkeit des Ausdrucks, an welcher vielleicht die gehobene Stimmung des Komponisten, welcher eben damals glücklicher Bräutigam war, einigen Anteil gehabt hat. Zugleich aber stellte M. gerade hier der Schilderung zarter und treuer Liebesgefühle die heiterste Laune und (im Osmin) eine von ihm selbst kaum wieder erreichte Komik entgegen, welche mit der Sentimentalität der Hauptfiguren aufs glücklichste kontrastiert. Noch bewunderungswürdiger erscheint er in seiner nächsten Oper, der nach Beaumarchais' gleichnamigem Lustspiel von Da Ponte bearbeiteten "Hochzeit des Figaro" ("Le nozze di Figaro"). Die schwierige Aufgabe, den eleganten Konversationsstil des französischen Lustspiels in die natürliche Sprache des Gefühls zu übersetzen, hat M. hier wie spielend bewältigt. Er vermochte die kalte Ironie und Satire und selbst die stellenweise nackte Frivolität der Dichtung durch die naive Anmut seiner Musik zu verdecken und die Unsittlichkeit des Stoffes aufzuheben, indem er als Grundmotiv des unaufhörlichen Intrigenspiels die echte Liebe darstellte, die er mit durchdringender Herzenskenntnis in allen denkbaren Beziehungen schildert und wie im Feuer der Leidenschaft erprobt aus allen Verwickelungen siegreich hervorgehen läßt. Die höchste Stufe aber erreicht M. mit seinem "Don Juan" ("Il dissoluto punito, o il Don Giovanni"). Indem er hier die Lieblichkeit und Anmut der italienischen Melodik mit dem großartigen Pathos der Gluckschen französischen Oper, den Fluß und die wirkungsvolle Behandlung des vokalen Teils mit einem bis dahin unbekannten Reichtum und Glanz des Orchesters vereint, indem er ferner die Charaktere, sowohl die tragischen als die komischen, unter steter Mitwirkung der Instrumente mit höchster Schärfe und vollendeter Naturwahrheit zeichnet und diese wichtigste Aufgabe des dramatischen Komponisten selbst dann keinen Augenblick vernachlässigt, wenn er, seinem spezifisch musikalischen Genius folgend, die wunderbarsten kontrapunktischen Gebilde gestaltet, hat er ein musikalisch-dramatisches Meisterwerk geschaffen, welches alles vor seiner Zeit auf diesem Gebiet Entstandene hinter sich zurückließ und der deutschen Tonkunst einen entscheidenden Sieg über die fremdländische errang. "Für alle Situationen und Erscheinungen", sagt v. Dommer ("Geschichte der Musik", S. 552), "von den Schrecken der Geisterwelt und den drohenden Verkündigungen des Gerichts bis zu den wonnevollen Schauern der Sommernacht, weiß er seine Farbentöne auf das wunderbar treffendste zu stimmen. Und in welchen Regionen des Tragischen und Leidenschaftlichen oder des Komischen und Anmutigen, des grauenvoll Dämonischen oder der lichten Seelenheiterkeit er sich auch bewegen möge: die Grenzlinie des Schönen und Naturgemäßen hat er niemals überschritten; sein feines und unfehlbares Kunstgefühl ließ sich gar nicht nahekommen, was die Wahrheit und Reinheit seiner Gestaltungen irgendwie hätte trüben können. Solchen eminenten Gaben gegenüber kann man aber schließlich um so weniger den Wunsch unterdrücken, ihr glücklicher Besitzer möge häufiger dem Edlen und Erhabenen sich zugewendet haben. In dieser Beziehung stand er nicht über seiner Zeit; ein Zuchtmeister und Sittenlehrer, wie es Händel und Gluck gewesen, konnte er ihr nicht werden. Er starb zu jung, um erkannt zu haben, daß die Kunst nicht bloß durch ihre Vollkommenheit in sich auf Zeitgenossen und Nachkommen wirken soll, sondern auch durch die Größe und Hoheit ihrer Ideale und der darin verkörperten Lebensanschauungen. Die Texte der bedeutendsten Opern Mozarts sind zum großen Teil trivial und frivol; selbst der 'Don Juan', rein kunstmäßig eins der größten Meisterwerke, welche jemals geschrieben sind, hat den ausschweifenden Wüstling zum Helden, der, wenn wir ihn als Personifikation der den sinnlichen Lüsten anheimgefallenen und durch sie vernichteten sittlichen Schwäche fassen, zwar eine furchtbare Wahrheit und Bedeutung gewinnt, als Objekt der Kunstdarstellung aber wenigstens des Genius eines M. bedarf, um nicht widerwärtig zu werden." Dieselbe Leichtlebigkeit, um nicht zu sagen derselbe Leichtsinn der ethischen Seite seiner Kunst gegenüber erklärt es, daß M. nach Vollendung des "Don Juan" seine schöpferische Kraft auf Stoffe verwenden konnte wie die geistlose Opera buffa des Da Ponte: "Così fan tutte, ossia la scuola degli amanti", wie Metastasios frostige Galaoper "La clemenza di Tito", an denen die Hand selbst des größten Meisters erlahmen mußte, oder wie die dem Geschmack eines vorstädtischen Theaterpublikums huldigende Zauberposse Schikaneders: "Die Zauberflöte". Aber gerade im