958
Mytazismus - Mythologie.
Mytazismus (griech.), das zu häufige Vorkommen des Lautes m (griech. my).
Mythen (Große und Kleine M.), zwei Berggipfel in den Schwyzer Alpen (s. d.).
Mythographen (griech., "Mythenschreiber"), Bezeichnung derjenigen meist spätern Schriftsteller des klassischen Altertums, welche die Sagen und Dichtungen der Vorzeit in Prosa bearbeiteten und zusammenstellten, wie unter den Griechen namentlich Apollodor, Parthenios, Paläphatos, unter den Römern Hyginus, Fulgentius, Lutatius Placidus u. a. Beste Sammlung der "Mythographi graeci" von Westermann (Braunschw. 1843); der "Mythographi latini" von Muncker (Amsterd. 1681, 2 Bde.) und v. Staveren (Leiden 1742, 2 Bde.).
Mythologie (griech.), die Lehre von den Mythen. Mythus heißt im allgemeinen Rede, dann Überlieferung, im engern Sinn die Überlieferung aus vorhistorischer Zeit (in welchem wir das Wort mythisch auch im täglichen Leben gebrauchen), in der modernen wissenschaftlichen Sprache eine Erzählung, deren Mittelpunkt ein göttliches Wesen ist, und das in konkreter Erzählungsform auftretende Dogma der alten heidnischen Völker, besonders der Griechen, bei denen sich der Mythus am freiesten und reichsten ausgebildet hat, und deren M. hier vorzugsweise in Betracht kommt. Jenes Dogma braucht nicht immer ein eigentlich religiöses zu sein. Jene frühern Menschen haben vielmehr all ihr Denken und Fühlen, ihre gesamte Vorstellungswelt im Mythus niedergelegt, und die M. bildet so den ganzen Komplex ihres Wissens und ihrer Moral. Die Entstehung der Mythen ist davon abzuleiten, daß man die Wirkungen der Naturkräfte willensbegabten Persönlichkeiten zuschrieb, welche, je nachdem diese Wirkungen dem Menschen gegenüber freundlich und segensvoll oder verderblich, furchtbar und zerstörend waren, als milde und freundliche oder als zürnende und feindliche Wesen aufgefaßt wurden. Weil aber die Wirkungen der Naturkräfte, also auch die sie hervorbringenden Persönlichkeiten, weit über die menschliche Kraft erhaben waren, so erschienen letztere als Gottheiten. Da jedoch der Mensch solche ihn überragende Persönlichkeiten nur als potenzierte Menschen sich vorstellen kann, so müssen sie zwar einen dem menschlichen analogen Ursprung haben und auf menschliche Weise leben und empfinden, aber zugleich, da sie nicht aufhören, sich in der Natur zu manifestieren, unsterblich sein. Je nach dem Eindruck, den eine Naturerscheinung, in der sich die Gottheit offenbarte, auf den Menschen machte, wurde die Gottheit männlich oder weiblich gedacht: die stärkern, bewegtern, finstern Gottheiten waren männliche, die mildern, still wirkenden, empfangenden weibliche. Diese aus der Naturbetrachtung entstandenen Mythen, die wir physische nennen können, sind die ursprünglichen und ältesten; dieselben werden jedoch im Fortschritt menschlicher Gesittung mehr und mehr zu ethischen umgebildet. Derjenige Gott, welcher nach physischer Auffassung als der mächtigste erscheint, wird als König der Götter betrachtet. Indem sich nun die ethische Weiterbildung dieses Götterkönigs bemächtigt, muß sie ihn notwendig mit denjenigen Eigenschaften ausstatten, welche von einem guten irdischen König verlangt werden, also neben Macht und Majestät mit Gerechtigkeit, Milde, Weisheit, festem Willen etc. Ferner leitet die mythenschaffende Thätigkeit aus dem Wesen dieses Charakters in seinem Verhältnis zu andern Charakteren Begebenheiten, Erlebnisse und Konflikte ab, in denen sich der Charakter des Gottes oder eine Seite desselben manifestiert. Als endliche und letzte Phase dieser fortarbeitenden Thätigkeit ist die vollendete Vermenschlichung ursprünglich göttlicher Wesen zu bezeichnen, die aber erst dann möglich ist, wenn die Naturbedeutung gegen die ethische Entwickelung ganz in den Hintergrund getreten ist. Die vermenschlichte Gottheit erhält dann eine neue menschliche Genealogie, tritt aber damit aus dem Gebiet des Mythus in das der Sage über, welche auf ihre Weise an das vom Mythus Überkommene anknüpft und daran fortspinnt. Als Elemente der griechischen Mythenbildung müssen noch erwähnt werden das lokale, d. h. die Berührung verschiedener Stämme Griechenlands, und das zeitliche, d. h. die Aufeinanderfolge verschiedener Kulte. Bei der Berührung verschiedener Stämme erfolgte natürlich ein Austausch von (immer lokal entstehenden) Mythen und von religiösen Ideen, und es entstanden infolge hiervon die Sagen von Wanderungen der Götter, aber auch, durch gegenseitige Konzession oder durch Überwiegen eines Stammes, ein Synkretismus, wonach zwei (oder mehrere) göttliche Wesen ähnlicher Natur zu einem verschmolzen und mit den Eigenschaften beider ausgestattet wurden. Aus der Aufeinanderfolge verschiedener Kultusepochen aber entstanden die Sagen von Vernichtungskämpfen einzelner Götter oder der Göttergeschlechter gegeneinander, wie z. B. die Sage von dem siegreichen Kampf gegen die Titanen, durch welchen die olympische Götterdynastie zur Herrschaft gelangte.
Die Quellen der M. sind die Schrift- und Kunstwerke der Alten. Am wichtigsten sind die ältesten Dichter, besonders Homer, der die heroische, Hesiod und die Orphiker, welche die kosmogonische und theogonische M. repräsentieren. Doch ist diese Dichtermythologie in zahllosen Fällen poetisch ausgeschmückt und umgewandelt, so daß sehr oft verhältnismäßig späte Schriftsteller (z. B. Pausanias, welcher aus lokaler Tradition schöpfte) das Bessere und Ursprünglichere enthalten. Das Geschäft des Sammelns und Systematisierens der Mythen vollzogen vornehmlich die Chronisten und ältern Historiker, an deren Stelle in der Zeit der sinkenden griechischen Bildung die Periegeten und Grammatiker, welche Lokalsagen und Monumente mit großem Fleiß und in weiter Ausdehnung sammelten und mythologische Cyklen zum Zweck der Litteraturstudien und des Unterrichts der Jugend bildeten. In der spätern Litteratur sind die dem Apollodor von Athen zugeschriebene "Bibliothek", die "Bibliothek" des Diodorus Siculus, Ovids "Metamorphosen", Hygins "Fabeln" und "Poetische Astronomie" Hauptquellen der M., und einen außerordentlichen Reichtum von Lokaltraditionen bietet Pausanias dar. Ergänzende Quellen unserer mythologischen Kenntnis sind die Kunstwerke (Skulpturen, Wandgemälde, Vasenbilder, geschnittene Steine, Münzen etc.), indem sie meistens die von den Dichtern dargebotenen Mythen künstlerisch umbilden, bisweilen aber auch Mythen vorführen, die in schriftlicher Überlieferung verloren gegangen sind, ja hin und wieder auch selbst zu Mythenbildungen Anlaß gegeben haben.
Was die M. als Wissenschaft in der neuern Zeit betrifft, so hat man im 17. und 18. Jahrh. einerseits die Mythen auf pragmatische Weise wie Geschichte behandelt, anderseits die religiösen Ansichten der Alten von einem einseitigen Standpunkt aus beurteilt, indem man in denselben bald ein Vorspiel, bald eine Entstellung der wahren Religion, d. h. der biblischen Offenbarung oder des Christentums, sah. Einen