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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Neuenburg

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Neuenburg (Kanton: Erwerbszweige, Schulwesen, Verfassung etc.; Geschichte).

eingeführt werden, ebenso Holz und Steinkohlen. Die Rinderzucht der Berge ist Alpenwirtschaft, im Unterland und im Val de Ruz mit Landbau verbunden. Bei Travers bildet der Asphalt ein Lager von 6 m Mächtigkeit mit einem durchschnittlichen Bitumengehalt von 10 Proz. und soll sich unterirdisch über mehr als 20-30,000 qm erstrecken. In den Hochthälern findet sich viel Torf, bei Neuchâtel treffliche Bausteine (Neokom). Im Val de Travers betreibt man Fabrikation von Schokolade und Absinthextrakt (Export jährlich 150,000 Flaschen), in den Bergen allgemein die Uhrmacherei (s. Chaux de Fonds). Auch die Fabrikation von Chronometern hat eine ansehnliche Stellung errungen. Seit einigen Jahren befindet sich aber die Neuenburger Uhrmacherei, wie andre schweizerische Industriezweige, in einer Krisis, die hauptsächlich durch die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, dem Hauptabsatzland, eingetretenen Veränderungen bedingt ist. Während die Stadt Neuchâtel durch den Export von Wein und Käse zu einer nach schweizerischem Maßstab beträchtlichen u. reichen Handelsstadt geworden ist, gibt es in den Hochthälern, besonders in La Chaux de Fonds und Le Locle, aber auch in Le Pont, La Sagne, La Brévine etc. und selbst noch in dem abgelegenen Dorf Les Brenets, Firmen, die sich denjenigen der ersten schweizerischen Verkehrsplätze an die Seite stellen dürfen. Nur einer zähen Ausdauer konnte es gelingen, die dem Großverkehr entrückten Hochthäler durch eine Eisenbahn mit den Thalsystemen zu verbinden. Als nämlich die Uferbahn Neuveville-Neuchâtel-Yverdon (ein Stück der den Boden- und Genfer See verbindenden Thallinie) das Vignoble durchzog, knüpfte nicht allein eine Linie durch das Val de Travers in Neuchâtel an, sondern auch der schwierige Bau des "Jura Industriel", der über Le Locle nach Villers le Lac führt, mit Abzweigung ins Val St.-Imier. Über die Dampfschiffahrt auf dem See s. Neuenburger See. An Banken besitzt der Kanton die 1854 gegründete Banque Cantonale Neuchâteloise mit 3 Mill. Frank eingezahltem Kapital und als Hypothekenbank den Crédit foncier de Neuchâtel (mit 8 Mill. Fr.), beide in Neuchâtel.

Das Schulwesen des Kantons N. gehört zu den regenerierten und steigt von den Volksschulen, deren Besuch unentgeltlich und obligatorisch ist, zu verschiedenen höhern Lehranstalten auf, unter welchen das Gymnasium von Neuchâtel und die Industrieschule von La Chaux de Fonds und Le Locle den Charakter von Mittelschulen haben, während die 1866 neugegründete Akademie (in Neuchâtel), mit der auch die staatliche Lehrerbildungsanstalt verbunden ist, unter die Berufsschulen gehört. Ein Privatseminar besteht in Peseux. Die öffentlichen Bibliotheken zählen 120,000 Bände, wovon 65,000 auf die Stadtbibliothek in Neuchâtel entfallen. Der Kanton besitzt 6 Rettungsanstalten, eine Zwangsarbeitsanstalt in Devens und eine Irrenanstalt in Préfargier. Klöster besitzt N. nicht. Die Katholiken gehören zur Diözese Lausanne-Genf (mit Bischofsitz in Freiburg). Politisch zerfällt der Kanton in sechs Bezirke: Boudry, La Chaux de Fonds, Le Locle, Neuchâtel, Val de Ruz und Val de Travers.

Zufolge der gegenwärtigen Verfassung (vom 21. Nov. 1858, später in einigen Paragraphen abgeändert) bildet der Kanton N. einen demokratischen Freistaat. Die Souveränität ruht in der Gesamtheit des Volkes. Die Verfassung garantiert die in den Schweizer Republiken üblichen Grundrechte. Die Legislative übt der Große Rat (Grand Conseil), der auf drei Jahre direkt vom Volke gewählt wird (je ein Mitglied auf 1000 Seelen), mit Wiederwählbarkeit. Wählbar ist jeder Wähler mit zurückgelegtem 25. Lebensjahr, ausgenommen die Geistlichen, die Staatsräte und die direkten Stellvertreter des Staatsrats in den Bezirken. Stimmberechtigt ist (mit gewissen Ausnahmen) jeder Neuenburger mit dem vollendeten 20. Jahr, ebenso die im Kanton gebornen Schweizerbürger und endlich jeder Zugezogene drei Monate nach Abgabe seiner Papiere. Der Große Rat erläßt die Gesetze, beschließt die Steuern, Ausgaben, Anleihen etc., setzt das Budget und die Besoldung der Beamten fest, entscheidet Konflikte zwischen der exekutiven und richterlichen Gewalt etc. Die Exekutive ist einem auf drei Jahre gewählten Staatsrat (Conseil d'État) von sieben Mitgliedern, die jeweilig wieder wählbar sind, übertragen. Das Präsidium desselben wird alljährlich vom Großen Rat neu bezeichnet. Die Staatsräte haben in der Legislative beratende Stimme. Die Rechtspflege üben teils Friedensrichter, teils Gerichte, erstere durch das Volk, letztere durch den Großen Rat auf je drei Jahre gewählt. Für die Strafrechtspflege ist die Jury vorgesehen. Den Gemeinden und Korporationen sind die Güter garantiert und deren Verwaltung überlassen; letztere steht aber unter der unmittelbaren Aufsicht des Staats. Jede religiöse Genossenschaft bedarf zu ihrer Niederlassung die ausdrückliche und immer widerrufliche Erlaubnis des Großen Rats. Die dem rein demokratischen Wesen zusteuernde Revisionsbewegung, welche sich seit 1863 in einer Reihe der fortgeschrittenern Kantone Bahn brach, hat N. erst 1879 erobert; die Volksabstimmung vom 28. und 29. Juni hat die Einführung des fakultativen Referendums angenommen und dasselbe an den Willensausdruck von 3000 Wählern geknüpft. Die Einnahmen des Staats betrugen 1886: 2,633,750 Frank, die Ausgaben 2,645,171 Fr., also Defizit 11,421 Fr. Unter den Einnahmen bilden den bedeutendsten Posten die Steuern mit 923,086 Fr.; unter den Ausgaben, abgesehen von der Verzinsung u. Amortisation der Staatsschuld im Betrag von 777,801 Fr., steht obenan das Erziehungswesen mit 423,483 Fr. Ende 1886 war der Stand des neuenburg. Staatsvermögens an Aktiven 19,294,375, an Passiven 15,683,756, also reines Vermögen 3,611,119 Fr.

[Geschichte.] Das Grafenhaus von N., ein altes burgundisches Adelsgeschlecht, dessen Stammsitz Fenis am Bieler See war, und von dem sich die Nebenlinien von Valengin, Nidau, Straßberg und Aarberg abgezweigt hatten, empfing seinen Namen von der 1072 durch Rudolf II. gegründeten Stadt N. Durch das Aussterben der Zähringer (1218) wurden die Grafen von N. reichsunmittelbar, bis Graf Raoul die mächtigen Grafen von Châlons 1288 als Oberlehnsherren anerkannte. Nach dem Aussterben des alten Grafenhauses 1395 ging N. durch Erbschaft an einen Seitenverwandten, Konrad von Freiburg, 1457 an die Grafen von Hochberg und von diesen 1504 durch Heirat an den französischen Prinzen Ludwig von Orléans, Herzog von Longueville, über. Nachdem das Land schon durch ein "ewiges Burgrecht" des Grafen und der Stadt mit Bern (1406) und durch ähnliche Bündnisse mit Solothurn (1369), Freiburg (1495) und Luzern (1501) an die Eidgenossen gekettet worden war, besetzten es diese 1512 infolge des Kriegs, den sie mit Frankreich um Mailand führten, u. regierten es als gemeine Vogtei bis 1529, wo sie es der Herzogin von Longueville zurückstellten. Unter dem Schutz Berns, das eine Art schiedsrichterlicher Gewalt über N. ausübte, führte Farel 1530 die Reformation ein. 1584 fiel Valengin an N. Im Westfälischen Frieden wurde N. als souveränes, im Schirm der Eidgenossenschaft