Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schweiz

763

Schweiz (Geschichte 1848-1873).

stimmt wurde, zusammen und wählte den ersten Bundesrat.

Neueste Zeit.

Fortan erfreute sich die S. im Innern fast ohne Ausnahme gesetzlicher Ruhe und Ordnung. Die neuen Bundesbehörden entwickelten eine rege organisierende Thätigkeit: das Heerwesen, Maß u. Gewicht, Münze, Post, Telegraphie und Zölle wurden einheitlich geregelt, die Zollschranken zwischen den Kantonen, die Brücken- und Wegegelder beseitigt, ein eidgenössisches Polytechnikum in Zürich gegründet u. a. m.; der Bau der Eisenbahnen blieb nach heftigen Kämpfen der Privatthätigkeit überlassen. Auch die Beziehungen zum Ausland blieben freundlich. Der deutsche Bundestag und Österreich beschwerten sich zwar 1848 und 1849 über die Aufnahme deutscher und italienischer Flüchtlinge in der S., waren aber nicht in der Lage, ihren Drohnoten Folge zu geben. Nur wegen Neuenburgs (s. d.) kam es zu einem Konflikt mit Preußen, indem die Royalisten in diesem Kanton, in welchem ein Aufstand der Republikaner 1. März 1848 der Herrschaft des preußischen Königs ein Ende gemacht hatte, 3. Sept. 1856 sich erhoben und Friedrich Wilhelm IV. wieder zum Herrscher ausriefen. Doch scheiterte die Erhebung, und die Führer wurden gefangen gesetzt. Preußen verlangte ihre sofortige Freilassung und traf, als sie verweigert wurde, kriegerische Anstalten. Indes vermittelte Napoleon III. einen Vergleich dahin, daß der Bundesrat die Royalisten freiließ, der König aber auf Neuenburg verzichtete (26. Mai 1857). Als Sardinien 1860 Savoyen an Frankreich abtrat, erhob die S. Ansprüche auf die Landschaften Faucigny und Chablais, weil dieselben vom Wiener Kongreß in ihre Neutralität eingeschlossen worden waren. Zwar wurde die Neutralität der Landschaften von Frankreich anerkannt, die Abtretung aber entschieden abgelehnt, und da keine der Mächte für die S. eintrat, mußte sie sich in die vollendete Thatsache fügen. Doch gab Frankreich einen Teil des Dappenthals, das vom Wiener Kongreß der S. zugewiesen, bisher ihr aber immer noch nicht abgetreten worden war, 8. Dez. 1862 zurück und bewilligte ihr 28. Juni 1864 einen günstigen Handelsvertrag, dem Handelsverträge der S. fast mit allen zivilisierten Ländern folgten. 1869 wurde die wichtige Frage eines Alpendurchstichs zu gunsten des St. Gotthard entschieden, und Italien und Deutschland verpflichteten sich zu ansehnlichen Subventionen.

Der deutsch-französische Krieg von 1870 zog auch die S. in Mitleidenschaft, indem er sie nötigte, zum Schutz der Neutralität bedeutende Truppenmassen unter General Herzog an der Grenze aufzustellen. Als die flüchtige französische Ostarmee nach ihrer Niederlage bei Belfort 1. Febr. 1871, 85,000 Mann stark, die Schweizer Grenze überschritt, mußte sie entwaffnet und in der S. einquartiert werden, was die Sympathien mit Frankreich so wenig abkühlte, daß es 9. März 1871 in Zürich zu einem rohen Exzeß gegen die Deutschen, welche ein Siegesfest feierten, kam. Unruhen bei der Verhaftung der Tumultuanten hatten sogar die eidgenössische Besetzung der Stadt und die Einsetzung eidgenössischer Assisen zur Aburteilung der Schuldigen zur Folge. Die Spannung, welche der Krieg hervorrief, brachte die Verfassungsreform, welche schon 1869 angeregt worden war, ins Stocken. Nachdem nämlich nach dem Vorgang Zürichs fast alle Kantone die Repräsentativverfassung durch Einführung des Referendums (der direkten Volksabstimmung über Gesetze und finanziell wichtige Beschlüsse), des Veto und der Initiative (des Rechts einer bestimmten Anzahl Bürger, die Abstimmung über ein Gesetz zu verlangen, bez. ein Gesetz vorzuschlagen) in eine reine Demokratie umgewandelt hatten, regte die Bundesversammlung auch eine Bundesrevision an, deren Entwurf 5. März 1872 festgestellt wurde. Derselbe wies die Gesetzgebung über Zivil- und Strafrecht, Ehesachen, Eisenbahn-, Versicherungs-, Bank- und Fabrikwesen dem Bund zu, gab ihm die völlige Verfügung über das Militärwesen, verbot Todes- und Körperstrafen, garantierte völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit, erklärte den Elementarschulunterricht für obligatorisch und unentgeltlich und führte auch für den Bund das fakultative Referendum und das Recht des Veto und der Initiative des Volkes ein. Der Entwurf wurde aber, weil außer den Ultramontanen und Konservativen auch die Liberalen der welschen S. dagegen waren, 12. Mai 1872 mit 261,096 gegen 255,585 Stimmen und von 13 gegen 9 Kantone verworfen. Die Bundesversammlung gestaltete den Entwurf nun in dem Sinn um, daß die Kantone nicht alle Verfügung über das Militärwesen und nicht die ganze Zivil- und Strafgesetzgebung verloren, wogegen die Errichtung von Bistümern von der Genehmigung des Bundes abhängig gemacht, die Errichtung von Klöstern verboten und die Rechte des Bundes in kirchlichen Dingen überhaupt erweitert wurden; das Recht der Initiative ließ man fallen. Diese Verfassung wurde 19. April 1874 mit 340,199 gegen 198,013 Stimmen und von 14½ gegen 7½ Kantone angenommen und 29. Mai 1874 als gültig verkündet.

Die Bestimmungen der neuen Verfassung über die kirchlichen Verhältnisse waren durch die kirchlichen Konflikte veranlaßt, welche eine Folge der Beschlüsse des vatikanischen Konzils waren. Der Bischof Lachat von Basel verkündete trotz des Verbots der Diözesankonferenz (der Vertreter der am Bistum beteiligten Kantone Solothurn, Luzern, Zug, Bern, Aargau, Thurgau und Baselland) das Unfehlbarkeitsdogma, entsetzte und exkommunizierte die das Dogma nicht anerkennenden Pfarrer Egli in Luzern und Gschwind in Starrkirch und wies die Aufforderung, diese Entsetzungen zurückzunehmen, schroff ab. Deshalb sprachen die Kantone (außer Zug und Luzern) 29. Jan. 1873 die Amtserledigung des Bistums aus und schritten, da das Domkapitel sich weigerte, einen Bistumsverweser zu ernennen, 21. Dez. 1874 zur Aufhebung des Bistums und zur Liquidation seines Vermögens; Lachat verlegte seinen Sitz von Solothurn nach Luzern. Als 97 Geistliche des bernischen Jura gegen das Verfahren der Diözesankonferenz protestierten und Lachat als ihren rechtmäßigen Bischof erklärten, wurden sie abgesetzt und, nachdem Unruhen in einzelnen Gemeinden durch militärische Besetzung unterdrückt worden, ausgewiesen (Januar 1874). Diese letztere Maßregel mußte allerdings auf Anordnung des Bundes 1875 als verfassungswidrig zurückgenommen werden. Doch billigte das Berner Volk mit 70,000 gegen 17,000 Stimmen das Kirchengesetz, durch welches der Kanton Bern seine Staatshoheit in Kirchensachen wahrte. Ein andrer Konflikt brach in Genf aus, wo der Stadtpfarrer Mermillod sich ohne Genehmigung der Regierung die bischöflichen Gewalten über die dortigen Katholiken hatte übertragen lassen und trotz Protest des Staatsrats ausübte. Deswegen 20. Sept. 1872 abgesetzt, ward er von der römischen Kurie 16. Jan. 1873 zum apostolischen Vikar des Kantons Genf ernannt, aber vom Bundesrat ausgewiesen. Weil der Papst 21. Nov. in einer Encyklika das Vorgehen der Schweizer Be-^[folgende Seite]