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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Türkisches Reich

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Türkisches Reich (Geschichte 1861-1875).

Strafe gezogen wurden. Erst im Juni 1861, nachdem über die Entschädigung der heimgesuchten christlichen Bevölkerungen für die erlittenen materiellen Verluste eine Einigung erzielt worden war, wurden die französischen Truppen wieder abberufen. Der Libanon wurde zu einem besondern, direkt von Konstantinopel abhängenden Verwaltungsbezirk gemacht und unter einen Statthalter christlicher Konfession mit Wesirsrang gestellt.

Auch in der christlichen Bevölkerung der europäischen Türkei regte es sich unter dem Einfluß der panslawistischen und panhellenischen Agitationen an verschiedenen Orten. Besonders gefährlich ward der Aufstand in Kreta im Frühjahr 1866. Erst im August schickte die Pforte Truppen nach der Insel, um die Ordnung herzustellen; doch brach der Kampf im Frühjahr 1868 mit erneuter Heftigkeit aus, und erst, als die Pforte Griechenland ein Ultimatum stellte, wenn es nicht aufhöre, den kretischen Aufstand zu unterstützen, und die im Januar 1869 in Paris zusammengetretene Konferenz der Mächte Griechenland nötigte, sich diesem Ultimatum zu unterwerfen, gelang die Pacifizierung der Insel, nachdem sie große Opfer an Gut und Blut gekostet, für welche kein Ersatz geleistet wurde. Dieser Ausgang mußte die andern unterworfenen Völker ermutigen. 1866 trat Serbien mit dem Verlangen der gänzlichen Räumung des Landes seitens der türkischen Truppen hervor, und im Mai 1867 fügte sich die Pforte auch wirklich demselben, da Österreich entschieden darauf drang. Bloß Ägypten gegenüber gelang es dem Sultan, seine Autorität aufrecht zu erhalten. Er hatte 1866 dem Vizekönig Ismail Pascha bereitwilligst die Zustimmung zur neuen Thronfolgeordnung und 1867 den Titel Chedive mit erweiterten Befugnissen erteilt. Als dieser aber 1869 auf einer Reise nach Europa seine völlige Souveränität zu erlangen suchte, befahl ihm die Pforte 29. Nov. d. J., seine Armee auf 30,000 Mann zu reduzieren, keine neuen Panzerschiffe zu kaufen, ohne Genehmigung des Sultans keine Anleihen zu kontrahieren, selbständigen Verhandlungen mit fremden Mächten zu entsagen etc. Der Chedive unterwarf sich, erlangte aber im Mai 1873 bei einem persönlichen Besuch in Konstantinopel durch ein großes Geldgeschenk und Erhöhung des Tributs, daß der Sultan ihm alles, mit Ausnahme der Vermehrung der Flotte, wieder erlaubte.

Bei allen Übelständen genoß die Regierung Abd ul Asis' noch eines gewissen Ansehens, solange tüchtige Staatsmänner, wie Fuad und Aali Pascha, welche, allerdings mit Unterbrechungen, gegen 15 Jahre lang in den wichtigen Posten des Großwesirs und des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten abwechselten, an der Spitze des Staats standen. Als aber Fuad 1869 und Aali 1871 gestorben waren, da schwand mit der Geschäftskunde der Regierung auch das äußere Vertrauen zu ihr mehr und mehr. Der Sultan behielt bei der Wahl seiner Räte nur das eine Kriterium im Auge, ob sie ihn bei seinem Plan, die Thronfolge zu ändern und durch Einführung des Rechts der Erstgeburt seinen Sohn Jussuf zum Nachfolger zu bestimmen, unterstützen würden. Zunächst ernannte er Mahmud Nedim Pascha zum Großwesir, einen unwissenden und habsüchtigen Mann, welcher, um seine Kreaturen in die einflußreichen Stellen zu bringen, auf das willkürlichste unter den tüchtigern Beamten aufräumte und sich eine große Unpopularität zuzog, von welcher ein beträchtlicher Teil auf seinen Gebieter überging. Ganz gewissenlos wurden die Finanzen verwaltet. Der Sultan selbst ging mit der Verschwendung durch Prachtbauten voran. Das Heer und die Flotte verschlangen ungeheure Summen für die Neubeschaffung von Kanonen, Gewehren und Panzerschiffen. Telegraphen und Eisenbahnen, mit großen Kosten, aber nur nach den Wünschen und dem Vorteil der fremden Mächte und der Unternehmer angelegt, dienten wenig dazu, die Hilfsquellen des Landes zu vermehren, und belasteten zunächst bloß den Staatsschatz. Althergebrachte Hilfsmittel, wie stärkere Anziehung der Steuerschraube, Verpachtung von Staatsgütern, von Einkünften und Gerechtsamen, Verminderung des Gehalts der mittlern und niedern Beamten, wurden durch unverständige Ausbeutung bald abgenutzt und erfolglos und vermehrten nur die Verarmung und Unzufriedenheit im Volk. Zu immer drückendern Bedingungen mußten demnach von Jahr zu Jahr Darlehen aufgenommen werden; um nur zu Geld zu kommen, schien die türkische Regierung in ihren Zugeständnissen an die Kapitalisten keine Grenze zu kennen. Sie konnte daher bald auch die Zinsen ihrer auf 5000 Mill. Frank angewachsenen äußern Schuld nicht mehr bezahlen. Am 6. Okt. 1875 erklärte die Pforte, daß sie außer stande sei, von den Zinsen der Staatsschuld mehr als 50 Proz. zu bezahlen, daß sie aber über die restierenden 50 Proz. 5proz. Obligationen ausstellen wolle, welche später bar eingelöst werden sollten. Aber alle Versuche, der Mißwirtschaft im Innern Einhalt zu thun, waren erfolglos. Im Juli 1872 war es der patriotischen Opposition gelungen, Mahmud zu stürzen; aber seine Nachfolger erlagen alle nach kurzer Herrschaft den Ränken des russischen Botschafters Ignatiew, bis im August 1875 Mahmud wieder in die Regierung zurückberufen ward.

Innere Unruhen und neuer Krieg mit Rußland.

Rußland, seit 1864 durch Ignatiew in Konstantinopel vertreten, hatte unaufhörlich und mit wachsendem Erfolg daran gearbeitet, seine durch den Krimkrieg verlorne Stellung im Orient wiederzugewinnen. Da Ignatiew in Griechenland nicht mehr einen ohnmächtigen Schützling, sondern einen gefährlichen Nebenbuhler sah, so trat er fortan nicht sowohl als Protektor der orthodoxen Kirche als der slawischen Unterthanen der Türkei auf. Von ihm angestachelt, verlangten die Bulgaren ihre Loslösung von dem griechischen Patriarchat in Konstantinopel und erlangten im März 1870 auch wirklich die Errichtung eines eignen Exarchats. Um die Autorität der Westmächte zu erschüttern, stellte Rußland im Oktober 1870 während des deutsch-französischen Kriegs die Forderung, daß das durch den Pariser Frieden Rußland auferlegte Verbot, auf dem Schwarzen Meer Kriegsschiffe zu halten, aufgehoben werde. Die Pforte suchte vergeblich Hilfe bei Europa: Frankreich war zu Boden geschmettert, England hatte sich durch seine egoistische Politik im Sommer 1870 um alles Ansehen und allen Einfluß gebracht, und auf der Londoner Konferenz im März 1871 mußte sich die Pforte dem von Bismarck unterstützten russischen Verlangen fügen. Nach diesem Erfolg setzte Ignatiew seine Bemühungen, kein vernünftiges Verwaltungssystem aufkommen zu lassen, die Türkei mit Europa zu verfeinden, im Innern durch Unruhen u. dgl. zu zerbröckeln und so die völlige Unterwerfung derselben unter Rußland herbeizuführen, rastlos fort, und es gelang ihm, Mahmud Nedim Pascha durch Bestechung, den Sultan durch die Aussicht auf russische Unterstützung seines Thronfolgeplans völlig in seine Gewalt zu bringen.

1875 brach in der Herzegowina, angeblich durch Steuerdruck hervorgerufen, ein Aufstand aus. Mon-^[folgende Seite]