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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur (Entwickelung seit 1885: Lyrik, Drama).

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Deutsche Litteratur'

zu interessieren. Die stärksten Beweise für die gestaltende, poetisch offenbarende Kraft naturalistischer Lebensdarstellung wurden und werden bis zur Stunde nicht deutschen, sondern ausländischen Schriftstellern entnommen, und grundverschiedene Begabungen: Flaubert und Daudet, Zola, die Goncourts, de Bourget und eine Reihe andrer Franzosen, Turgenjew und Dostojewskij, die Norweger Ibsen und Kielland werden als Anreger und Propheten einer Lebensdarstellung genannt, die an Stelle der Phantasie die Beobachtung, an Stelle der seitherigen Welt- und Menschenanschauung eine neue, angeblich naturwissenschaftliche sehen und die großen Erkenntnisse der modernen Wissenschaft auf die Darstellung anwenden will. Die Vorkämpfer dieser jüngsten Schule trennen sich freilich schon dadurch wieder voneinander, daß die einen eine Erneuerung der abgelebten und schal gewordenen Poesie verheißen, während die andern den Ersatz der Poesie durch eine lebenschildernde Litteratur, die wissenschaftliches Gewicht und wissenschaftliche Zuverlässigkeit besitzen werde, als das Endziel der Bewegung bezeichnen. Noch ganz abgesehen von den Leistungen und der möglichen Entwickelungsfähigkeit der Talente, die sich mehr oder minder zu diesem Programm bekannt haben, entbehrt das Programm selbst, das eine große Umwälzung und Erneuerung der deutschen Litteratur ankündigt, der wünschenswerten Klarheit.

Das Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen und Selbstschätzungen der modernsten deutschen Poeten und ihren thatsächlichen schöpferischen Leistungen erwies sich im verflossenen Jahrfünft denn auch so stark, daß das Publikum in eine Art unbehaglicher Verwirrung gesetzt ward und zum Teil nicht einmal wußte und ahnte, worin denn nun das Neue und Außerordentliche des Dargebotenen liegen solle. Die Bevorzugung gewisser Themen des Geschlechtslebens, eine rücksichtslose Brutalität wirkten derart abstoßend, daß im Schoß der naturalistischen Schule selbst alsbald Kämpfe entstanden, weil man zwar darüber einig war, daß der »heuchlerischen Prüderie« und der »großen Gesellschaftslüge« Krieg bis aufs Messer angekündigt werden müsse, aber keineswegs alle Genossen der Richtung das natürliche Schamgefühl und das Taktgefühl verleugnen mochten, das in andern Zeiten auch die naturwüchsigsten Talente bewährt haben. Als Vertreter des Naturalismus traten Hermann Heiberg (Novellen; die Romane »Die goldene Schlange«, »Apotheker Heinrich«, »Ausgetobt«), Karl Bleibtreu, der eigentliche Heißsporn unter den jüngsten (mit halbnovellistischen Schlachtbildern, mit Gedichten und Dramen, dem Roman »Größenwahn«), M. G. Conrad (mit den Novellen »Totentanz der Liebe«, den Romanen »Was die Isar rauscht« und »Die klugen Jungfrauen«), D. von Liliencron (Gedichte, »Eine Sommerschlacht«, Novellen), Hermann Friederichs, Karl Henckell, Konrad Alberti, Hermann Conradi etc. hervor, deren Werke sich gutenteils sowohl der genießenden Aufnahme als einer ernsten Beurteilung entziehen. Mit einer anfänglich wüster und platt-geschmackloser Romane versuchte Max Kretzer das Berliner Leben, namentlich das Leben der Proletarier, zu schildern, rang sich aber in einigen spätern Darbietungen, namentlich in »Meister Timpe« zu klarerer Darstellung und größerer Innerlichkeit hindurch, was hoffentlich typisch für die Bestrebungen der ganzen Richtung sein wird.

Jedenfalls war unter all diesen Werken nichts, was die Empfindung und den Geschmack weiterer Lebenskreise berührt und gefesselt oder die Teilnahme ↔ an den poetischen Schöpfungen andern Ursprungs, andern Ziels und andern Stils geschwächt hätte. Wie weit auch die Ungunst der Zustände, die Verwirrung und Verwilderung des Publikums und namentlich die willkürliche Urteilslosigkeit gediehen sind, so hat es auch in den letzten fünf Jahren weder an innerlich wertvollen noch an äußerlich fesselnden poetischen Schöpfungen gefehlt. Selbst in der Lyrik, die immer mehr nur ein Bedürfnis der schaffenden, immer weniger der genießenden und teilnehmenden Naturen scheint, gewannen einige Erscheinungen über den engsten Kreis hinaus, in denen sonst der lyrische Poet gekannt ist, Gehör und Nachklang. So der liebenswürdig sinnige Heinrich Seidel mit seinen »Gedichten«, den »Idyllen und Scherzen«, der auch als Novellist in seinen »Vorstadtgeschichten«, Novellen u. a. hauptsächlich durch die Unmittelbarkeit der lyrischen Stimmung und einen feinen Humor wirkt, so Johannes Trojan, an dessen Lyrik gleichfalls der Scherz und die Neigung zum Gnomischen überwiegt, ferner Felix Tandem (C. Splitterer ^[richtig: Spitteler]), dessen Erstlingsgedichte, namentlich aber die »Schmetterlinge«, zum Köstlichsten und Eigentümlichsten der neuern deutschen Lyrik zählen, die Lieder und Gedichte des Dichtermusikers Peter Cornelius, die freilich frühern Jahrzehnten angehören und 15 Jahre nach dem Tode des Dichters durch Ad. Stern veröffentlicht wurden, die bedeutenden und für eine Frau in seltenem Grad eigentümlichen Gedichte von Isolde Kurz. Unter der neuen lyrischen Sammlung schon anerkannter Dichter, soweit sie nicht bloß Neuauflagen waren, sind L. Pfaus »Gedichte«, A. Fitgers »Winternächte«, Stephan Milows »Deutsche Elegien«, Paul Heyses »Spruchbüchlein«, Albert Mösers »Singen und Sagen«, Edwin Bormanns «Liederhort in Sang und Klang«, Emil Rittershaus' »Buch der Leidenschaft« hervorzuheben. Natürlich fehlt es nicht an einer Unzahl neuer Namen, und die gebildete Sprache, die für die Poeten dichtet und denkt, bewährt noch immer ihre alte Kraft, obschon sie daneben den greuelvollsten Dilettantismus, der alle Lyrik in Verruf gebracht hat, keineswegs ausschließt. Von neuen Namen mögen Heinr. Vierordt, Johannes Prölß (»Trotz alledem«), Frida Schanz genannt sein. Der didaktischen und philosophischen Lyrik gehörten O. von Leixners »Dämmerungen«, Heinr. Harts »Weltpfingsten«, Jul. Harts »Sansara« an, auch die Epigrammatiker B. Sutermeister, Albert Gehrle dürfen nicht unerwähnt bleiben. Die lyrisch-epische Dichtung (denn von epischer Dichtung im strengern Sinn des Wortes ist wenig zu berichten) erhielt mannigfache Vermehrungen, ohne sich großer Bereicherungen rühmen zu können. Die Mehrzahl hierher gehöriger Werke rührte von ältern, längst anerkannten Dichtern her, so die Mythe »Memnon« von A. Grafen Schack, das hübsche Gedicht »Kaiser Mar und sein Jäger« von Rud. Baumbach, »Der dicke König« von Hans Herrig, die nicht eben glückliche ägyptische Erzählung »Elifen« von Georg Ebers. Die Perle der erzählenden Dichtungen, das »Spielmannsbuch« von Wilhelm Hertz, enthielt Nachdichtungen mittelalterlicher Abenteuer, aber in so künstlerisch freier Weise, so vollendeter dichterischer Form, daß sie beinahe als eignes Eigentum des poetischen Übertragers zu betrachten sind. Als epische Versuche jüngerer Dichter zeichneten sich »Der Weg nach Eden« von Karl Kösting, »Die Kinder von Wohldorf« von Ferd. Avenarius aus.

Drama.

Auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung herrschte im Zusammenhang mit eigentümlichen, vielfach ver-

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 226.