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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1890).

Frankreich, entsprachen der Aufforderung, und die Konferenz trat 15. März unter dem Vorsitz des preußischen Handelsministers v. Berlepsch in Berlin zusammen. Sie tagte bis 29. März. Bindende Beschlüsse konnte sie nicht fassen, sondern nur Gutachten und Wünsche formulieren, welche den einzelnen Regierungen vorzulegen waren und später Gegenstand diplomatischer Abmachungen werden konnten. Doch war man einig in der Ansicht, daß der arbeitenden Klasse, namentlich den Frauen und Kindern, ein erhöhter Schutz, eine größere Sicherung ihrer materiellen, physischen, moralischen und intellektuellen Kräfte zu gewähren sei, soweit die Sicherheit der Existenz und das Gedeihen der Industrie, von dem auch das Gedeihen der arbeitenden Klasse abhängig sei, es gestatteten. Kaiser Wilhelm beschloß auf Grund der Beratungen des Staatsrats und der Arbeiterschutzkonferenz, sofort dem neuen Reichstag diesem Zwecke dienende Gesetzentwürfe vorlegen zu lassen.

Hierüber kam es nun zu einem Zwiespalt zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler, der am 20. März mit Bismarcks Rücktritt endete. Bismarck hatte bisher verhindert, daß die wiederholten Anträge des Reichstags auf Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung vom Bundesrat berücksichtigt worden waren, weil er der Meinung war, daß die deutsche Industrie die erforderlichen großen Op ser im Wettkampf mit den übrigen Nationen nicht ertragen werde; überdies glaubte er, daß solche Gesetze die Begehrlichkeit der Arbeiter ins Maßlose steigern würden. Er hatte daher auch im Kronrat 24. Jan. 1890 dafür gestimmt, das Sozialistengesetz in der von den Nationalliberalen beschlossenen Form (ohne Ausweisungsbefugnis) lieber abzulehnen und auf anderm Wege ein verschärftes Gesetz, das er für notwendig hielt, zu erzielen, während der Kaiser und die andern Minister mit jenem Gesetz sich zufrieden erklärten. Damals hatte sich der Kaiser Bismarck gefügt. Nach dem Ausfall der Wahlen vom 20. Febr. hielt der Kaiser aber die Einbringung eines neuen Sozialistengesetzes für nutzlos, da der neue Reichstag es doch nicht annehmen würde, und beschloß, es ohne Ausnahmegesetz zu versuchen. Jedoch Bismarck erklärte, den Weg, den der Kaiser in der Arbeiterfrage einschlagen wollte, nicht mitgehen zu können, und reichte 18. März seine Entlassung ein, welche 20. März unter Verleihung hoher Ehren gewährt wurde. Das Ereignis, das ziemlich unerwartet kam, da der junge Kaiser seit Beginn seiner Herrschaft wiederholt betont hatte, daß er auf Bismarcks bewährten Rat das höchste Gewicht lege, rief allgemeines Erstaunen hervor, zumal man anfangs die Ursache nicht deutlich erkannte. Die zahlreichen Feinde Bismarcks triumphierten; die Sozialdemokraten, auch die Deutschfreisinnigen rühmten sich, einen Sieg davongetragen zu haben. Die Anhänger des Reichskanzlers bedauerten seine Entlassung, glaubten aber auch, in den ernsten Willen und die klare Einsicht des Kaisers Vertrauen setzen zu können, und hielten mit ihrem Urteil zurück. Ohne Frage sammelt sich gegen einen Staatsmann, der, wie Bismarck, fast 28 Jahre an der Spitze der preußischen, fast 20 Jahre an der der Reichsregierung gestanden hat, eine solche Menge persönlicher Gereiztheit unter den parlamentarischen Mitarbeitern und Gegnern, den nicht beschäftigten oder zurückgewiesenen Beamten, den zahlreichen, nach Einfluß strebenden Personen auf, daß seine Thätigkeit immer schärfern Reibungen ausgesetzt ist; viele Beispiele in der Geschichte, wie noch zuletzt das des ungarischen Ministerpräsidenten Tisza, beweisen dies. Wieviel mehr mußte dies nun bei Bismarck der Fall sein, der in der That durch Schroffheit und Rücksichtslosigkeit öfters empfindlich verletzen konnte. Auch bemerkte sein Nachfolger mit Recht, daß Bismarck, der die ganze Reichs- und Staatsverwaltung beherrschen wollte und den Anspruch erhob, daß nichts ohne sein Mitwissen im Ministerium beraten und dem Staatsoberhaupt vorgetragen werde, doch gewisse Zweige des Staatslebens in den Hintergrund treten, wichtige Reformen unerledigt ließ und den Gehilfen in der Regierung nur geringe Selbständigkeit einräumte. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, konnte der Rücktritt Bismarcks dem Kaiser seine Aufgabe erleichtern.

Nicht weniger als Bismarcks Rücktritt überraschte die Ernennung des Generals v. Caprivi zu seinem Nachfolger. Dem politischen Parteileben fernstehend, war er doch mit der parlamentarischen Geschäftspraxis vertraut, da er fünf Jahre (1883-88) an der Spitze der deutschen Admiralität gestanden und sich als ruhiger, rein sachlicher, aber gewandter Redner bewahrt hatte. Da der Reichstag nicht versammelt war, so nahm Caprivi im preußischen Landtag Gelegenheit, sich über seine Absichten zu äußern; er betonte, daß er den »alten Kurs« beibehalten werde. Dennoch hofften die Gegner des bisherigen Systems von dem neuen Reichskanzler Berücksichtigung ihrer Wünsche und kamen ihm mit Vertrauen entgegen. Zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes an Stelle des Grafen Herbert Bismarck, der am 26. März ebenfalls die erbetene Entlassung erhielt, wurde der bisherige badische Bundestagsgesandte, Freiherr Marschall v. Biberstein, ernannt.

Die achte Legislaturperiode des deutschen Reichstags wurde 6. Mai 1890 vom Kaiser selbst mit einer Thronrede eröffnet, deren größter Teil sich mit der sozialen Frage beschäftigte. Zunächst ergab sich aus der Nichterwähnung des Sozialistengesetzes oder eines Ersatzes dafür, daß die Reichsregierung in der That 1. Okt. auf das Ausnahmegesetz gegen die Bestrebungen der Sozialdemokratie zu verzichten gewillt sei. Dagegen erklärte die Thronrede, daß die verbündeten Regierungen sich überzeugt hätten, daß die von dem letzten Reichstag in Bezug auf den Arbeiterschutz, namentlich die den Arbeitern zu gewährende Sonntagsruhe und die Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, gemachten Vorschläge ihrem wesentlichen Inhalt nach ohne Nachteil für andre Interessen zu gesetzlicher Geltung gebracht werden könnten, und diese sowie andre Verbesserungen sollten in einer Umgestaltung der Gewerbeordnung ihren Ausdruck finden. Als eine weitere Vorlage wurde die Neuorganisation der gewerblichen Schiedsgerichte angekündigt. »Je mehr«, hieß es dann, »die arbeitende Bevölkerung den gewissenhaften Ernst erkennt, mit dem das Reich ihre Lage befriedigend zu gestalten bestrebt ist, desto mehr wird sie sich der Gefahren bewußt werden, die ihr aus der Geltendmachung maßloser und unerfüllbarer Anforderungen erwachsen müssen. In der gerechten Fürsorge für die Arbeiter liegt die wirksamste Stärkung der Kräfte, welche Ich und Meine hohen Verbündeten berufen und willens sind, jedem Versuche, an der Rechtsordnung gewaltsam zu rütteln, mit unbeugsamer Entschlossenheit entgegenzusetzen.« Zu der auswärtigen Politik übergehend, sagte die Thronrede: »Die dauernde Erhaltung des Friedens bildet unausgesetzt das Ziel Meines Strebens. Ich darf der Überzeugung Ausdruck geben, daß es Mir gelungen ist, bei allen auswärtigen Regierungen das Vertrauen zu der Zuverlässigkeit dieser Meiner Politik zu befestigen. Mit Mir und