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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1890).

Meinen hohen Verbündeten erkennt es das deutsche Volk als die Aufgabe des Reiches, durch Pflege der zu unsrer Verteidigung geschlossenen Bündnisse und der mit allen auswärtigen Mächten bestehenden freundschaftlichen Beziehungen den Frieden zu schützen, um Wohlfahrt und Gesittung zu fördern. Zur Durchführung dieser Aufgabe aber bedarf es der seiner Stellung im Herzen Europas entsprechenden Heeresmacht.« Mit der in unvorhergesehenem Maße erfolgten Erweiterung und Vervollkommnung der Heereseinrichtungen der Nachbarstaaten wurde eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke und eine Vermehrung der Truppenkorps, insbesondere für die Feldartillerie, begründet, über welche eine Gesetzesvorlage angekündigt wurde.

Der neue Reichstag bestand aus 72 Deutschkonservativen, 21 Mitgliedern der Reichspartei und 42 Nationalliberalen, also 135 Mitgliedern des ehemaligen Kartells, 106 Mitgliedern der Zentrumspartei (inkl. Welfen), 64 Deutschfreisinnigen, 16 Polen, 10 Demokraten (Volkspartei), 35 Sozialdemokraten u. 31 zu keiner Fraktion gehörigen Mitgliedern (11 Welfen, 10 Elsaß-Lothringern, 5 Antisemiten etc.). Das Kartell hatte also die Mehrheit verloren; weil es aber insgesamt noch die stärkste Partei war, so wurde der bisherige Präsident v. Levetzow wiederum zum Präsidenten gewählt; das Zentrum, das nebst seinen polnischen, welfischen und elsaß-lothringischen Hospitanten die Situation beherrschte, indem es bald mit den Konservativen, bald mit den Deutschfreisinnigen eine Mehrheit bilden konnte, stellte in dem Grafen Ballestrem den ersten Vizepräsidenten. Als die drittstärkste Fraktion hatten die Deutschfreisinnigen Anspruch auf die zweite Vizepräsidentenstelle, stellten aber nicht, wie früher, den Abgeordneten Hänel aus Kiel als Kandidaten auf, sondern den Abgeordneten Baumbach; Hänels selbständiges Verhalten bei den Wahlen hatte das Mißfallen Engen Richters erweckt. Die Sozialdemokraten zählten bloß 35 Mitglieder, hatten aber bei den Wahlen die höchste Stimmenzahl (1,427,323) auf sich vereinigt und traten daher sehr selbstbewußt auf, zumal sie die kaiserlichen Erlasse vom 4. Febr., die internationale Arbeiterschutzkonferenz und die neuen sozialpolitischen Gesetzesvorlagen als Erfolge ihrer Agitation in Anspruch nahmen. Hierdurch ermutigt, beschlossen sie, durch allgemeine Feier des 1. Mai eine Demonstration für den achtstündigen Arbeitstag ins Werk zu setzen. Indes die Arbeitgeber ermannten sich dem gegenüber zu entschlossenem Widerstand, und wo trotz des vorsichtigen Abratens der Führer die Arbeitseinstellung versucht wurde, hatte sie einen kläglichen Erfolg.

Die erste Vorlage der Reichsregierung, welche zur Verhandlung kam, betraf die Bewilligung einer Nachtragsforderung von 4½ Mill. für die Unterdrückung der Sklaverei und die Wahrung der deutschen Interessen in Deutsch-Ostafrika (s. d.), wo der Reichskommissar Wißmann mit großer Energie und Klugheit den Aufstand besiegt und die wichtigsten Plätze wieder in deutsche Gewalt gebracht hatte. Der neue Reichskanzler hielt hierbei seine erste große Rede, in welcher er zwar zugab, daß er früher nicht zu den Freunden der Kolonialpolitik gehört habe, aber aussprach, daß er jetzt der Überzeugung sei, »daß so, wie die Sache heute liegt, wir nicht allein ohne Verlust an Ehre, sondern auch ohne Verlust an Geld nicht zurückkönnen, daß wir ebensowenig auf diesem Standpunkt stehen bleiben können, daß uns also nichts andres übrigbleibt, als vorzuschreiten«; mit Recht betonte er, daß die Kolonialpolitik ein Erzeugnis des deutschen Idealismus, des warmen Empfindens für die nationale Ehre und Größe sei, das nach dem Kriege von 1870 anderswo keine Befriedigung gefunden habe. Es zeigte sich gleich bei diesen ersten Verhandlungen, daß das sogen. Antikartell nur bei den Wahlen bestanden und Windthorst es bloß abgeschlossen habe, um sich die entscheidende Macht zu verschaffen. Das Zentrum trat für die deutsche Kolonialpolitik ein, und Bamberger blieb mit seinen Parteigenossen, der Volkspartei und den Sozialdemokraten in der Minderheit. Der Gesetzentwurf über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 1. Okt. 1890 ab bestimmte, daß dieselbe 486,983 Mann ohne die Einjährig-Freiwilligen, und zwar 538 Bataillone Infanterie, 465 Eskadrons Kavallerie, 434 Batterien Feldartillerie, 31 Bataillone Fußartillerie, 20 Bataillone Pioniere und 21 Bataillone Train betragen solle. Besonders war eine Vermehrung der Feldartillerie beabsichtigt. Begründet wurde die neue Vorlage damit, daß einmal Rußland unter Aufwendung überaus zahlreicher Geldmittel sein Heer planmäßig erweitert und durchgebildet, seine Verkehrswege stetig vermehrt und verbessert habe, hauptsächlich aber mit der Annahme und Durchführung des neuen französischen Wehrgesetzes, welches die gleichmäßig ausgebildeten Mannschaften in Frankreich für den Fall des Krieges auf 4,125,000 Mann steigerte, denen Deutschland nur 3,350,000 entgegenstellen könne; selbst nach der vorgeschlagenen Vermehrung der deutschen Feldartillerie würde diese doch noch um 46 Batterien und 775 Bespannungen hinter der französischen zurückbleiben. Die Kosten beliefen sich auf 18 Mill. jährlich dauernde, 40 Mill. einmalige Ausgaben. Die abermalige erhebliche Steigerung der Kriegslasten, nachdem 1887 das Septennat festgesetzt, im nächsten Jahre erhebliche Mittel für außerordentliche Rüstungen (im ganzen 700 Mill.) und 1889 die Errichtung von zwei neuen Armeekorps bewilligt worden waren, mußte naturgemäß Bedenken erregen und zur sorgfältigen Prüfung des Bedürfnisses herausfordern. Bei der ersten Beratung der Vorlage im Reichstag 14. und 16. Mai traten der Feldmarschall Graf Moltke und der Reichskanzler v. Caprivi für die Vorlage ein, welche zwar von der Volkspartei und den Sozialdemokraten, aber selbst von den Deutschfreisinnigen nicht prinzipiell bekämpft wurde; letztere befürworteten nur die zweijährige Dienstzeit als Kompensation für die Vermehrung der zum Kriegsdienst herangezogenen Mannschaften und eine Bewilligung der Heeresausgaben auf kürzere Zeit als sieben Jahre. Bei den Beratungen im Ausschuß begründete der General Vogel v. Falckenstein die Notwendigkeit der dreijährigen Dienstzeit in eingehender Weise, während der Kriegsminister v. Verdy sich in Erörterungen über eine zukünftige strenge Ausführung des Scharnhorstschen Planes der allgemeinen Wehrpflicht erging, welche für die Zukunft noch größere Opfer in Aussicht stellten und daher allgemein beunruhigten. Der Reichskanzler bemühte sich nicht ohne Erfolg, diese Besorgnisse zu beschwichtigen, doch bewirkten sie, daß die Verhandlungen des Ausschusses sich längere Zeit hinzogen und die Deutschfreisinnigen ihre Zustimmung zu der Militärvorlage von der Bewilligung mehrerer Zugeständnisse seitens der Regierung abhängig machten. Mißstimmung erregte es auch, daß die Reichsregierung in die Vorlage, betreffend die Erhöhung der Gehälter einiger Beamtenklassen, plötzlich auch die Offiziere bis zum Stabsoffizier aufwärts aufnahm, was eine Mehrausgabe von 5 Mill. jährlich bedeutete.