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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1890).

Dennoch wurde die Militärvorlage im Ausschuß Anfang Juni angenommen und zwar mit 16 Stimmen (die Vertreter des Kartells, 5 norddeutsche Ultramontane, auch Windthorst, und ein Pole) gegen 12 (die Deutschfreisinnigen, die Volkspartei, die Sozialdemokraten und 4 süddeutsche Ultramontane). Windthorst hatte erkannt, daß die Ablehnung der Vorlage zur Auflösung führen könne und bei Neuwahlen seine herrschende Stellung im Reichstag gefährdet sei, zumal mehrere seiner preußischen Parteigenossen, wie v. Huene, in diesem Falle auf seiten der Regierung standen. Er arbeitete daher mit allem Eifer darauf hin, daß auch seine süddeutschen Parteigenossen ihren Widerspruch aufgaben, und suchte ihnen das durch vier Resolutionen zu erleichtern, die er im Ausschuß beantragte und die dieser annahm. Ja denselben sprach der Reichstag den Wunsch aus, daß die Regierung 1) die geäußerten Pläne fallen lasse, künftig alle wehrfähigen Mannschaften zum aktiven Dienste heranzuziehen; 2) sich zur einjährigen Bewilligung der Friedenspräsenzstärke durch den Reichstag bequeme; 3) schon jetzt durch vermehrte Beurlaubungen etc. die Dienstzeit herabmindere und 4) eine Einführung der zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen in ernstliche Erwägung ziehe. Bei der Verhandlung im Reichstag selbst Ende Juni beruhigte der Reichskanzler die Versammlung über den ersten Punkt und teilte mit, daß eine erhebliche Erleichterung durch Beurlaubungen beschlossen sei. Unter diesen Umständen verzichtete Windthorst auf die zweite Resolution, und die Heeresvorlage wurde mit 211 gegen 128 Stimmen (Deutschfreisinnige, Volkspartei, Sozialdemokraten, Welfen und 18 süddeutsche Ultramontane) angenommen.

Das Gesetz über die Gewerbegerichte wurde zu Ende beraten und angenommen, das über den Arbeiterschutz wurde aber nicht einmal im Ausschuß erledigt. Um die eingehenden Beratungen desselben nicht unbenutzt zu lassen, wurde beschlossen, die Sitzungen des Reichstags nicht zu schließen, sondern ihn nur zu vertagen und den Ausschuß noch vor dem Zusammentritt des Reichstags selbst im November zu berufen. Die Erhöhung der Gehälter einiger Beamtenklassen wurde nach Streichung der Offiziere aus denselben in einem Nachtragsetat bewilligt. Die von den Deutschfreisinnigen und den Sozialdemokraten angekündigten Anträge auf Herabsetzung der Lebensmittelzölle, deren Erhöhung bei der Wahlagitation ein Hauptvorwurf gegen das Bismarcksche System und die Kartellmehrheit gewesen war, gelangten gar nicht zur Verhandlung, da sie von den Antragstellern selbst zurückgezogen wurden. Als es sich darum handelte, über den Platz und die Gestaltung des Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I. zu beschließen, stimmten außer den Sozialdemokraten und der Volkspartei nur wenige Freisinnige gegen den Antrag des Ausschusses, die Entscheidung hierüber dem Kaiser anheimzugeben. Hierauf wurde 2. Juli der Reichstag bis 18. Nov. vertagt. Die Ergebnisse seiner ersten Session waren für die Regierung günstiger, als sie nach dem Ausfall der Wahlen hatte erwarten dürfen; sie hatte dies der Haltung des Zentrums zu danken, welches, seiner Verantwortung sich bewußt, der Regierung wie den gemäßigten Parteien die beruhigende Überzeugung zu verschaffen bemüht gewesen war, daß es in nationalen Angelegenheiten zuverlässig und auf zahlreichen Gebieten ein Zusammenarbeiten mit ihm möglich sei; durch dies kluge und wohlberechnete Verhalten hatte das Zentrum seine Machtstellung außerordentlich verstärkt. Die Sozialdemokraten hatten sich vorsichtig zurückgehalten, während die deutsche freisinnige Partei, obwohl sie den Rücktritt Bismarcks mit großen Hoffnungen begrüßt hatte, es nicht verstand, sich einen Einfluß auf den Gang der Dinge zu sichern; sie verblieb in der unfruchtbaren, verneinenden Opposition.

Die auswärtige Politik Deutschlands hielt den frühern Kurs ein und war bestrebt, überallhin für den Frieden zu wirken und die guten Beziehungen zu den andern Staaten zu pflegen. Der 1889 gekündigte Niederlassungsvertrag mit der Schweiz, welche in der Frage der internationalen Arbeiterschutzkonferenz in zuvorkommender Weise auf ihre frühere Einladung verzichtet hatte, wurde 1890 erneuert und damit jede vom Fall Wohlgemuth etwa noch herrührende Verstimmung beseitigt. Von großer Bedeutung war das Abkommen, welches 1. Juli 1890 mit Großbritannien über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessengebiete in Afrika abgeschlossen wurde (näheres darüber s. im Artikel Deutsch-Ostafrika). Hier hatte der Reichskommissar Wißmann in wenig mehr als einem Jahr den Aufstand unterdrückt und sämtliche Küstenplätze in seine Gewalt gebracht; am 8. Mai 1889 war als erste Waffenthat Buschiris Lager bei Bagamoyo erstürmt, 14. Mai 1890 der letzte Küstenplatz im Süden, Mikindani, erobert worden. Der von Stanley wider Willen aus Äquatorialafrika weggeführte Emin Pascha war in deutsche Dienste getreten, und Peters hatte in dem wichtigen Reiche Uganda den deutschen Einfluß begründet. Da wurde es denn von manchen als eine bedenkliche und auch überflüssige Nachgiebigkeit Deutschlands angesehen, daß es in dem Abkommen die Schutzherrschaft über Witu und Somalland aufgab, auch Uganda nicht in seine Interessensphäre zog, das Protektorat über Sansibar den Engländern überließ und die Abtretung der Walfischbai in Südwestafrika sich nicht ausbedang. Die Abtretung Helgolands an D. war ein nicht abzuleugnender Gewinn für Deutschlands Stellung als Seemacht, schien aber in keinem Verhältnis zu dem zu stehen, was es in Afrika aufgab, und was dort England gewann, für welches Helgoland einen wirklichen Wert nie besessen hatte. Namentlich verdroß es, daß England so auftrat, als ob ganz Afrika von Rechts wegen ihm gehöre und jede Anerkennung fremden Einflusses in diesem Erdteil ein Zugeständnis seinerseits sei. Den Wert eines englischen Bündnisses schlug man nach den Erfahrungen früherer Zeiten, im Siebenjährigen und im Befreiungskrieg, gering an. Die Reichsregierung sah sich daher veranlaßt, Ende Juli eine »Denkschrift über die Beweggründe zum deutsch-englischen Abkommen« zu veröffentlichen, welche hervorhob, daß hierbei allen andern maßgebenden Gesichtspunkten das Bestreben voranstand, »unsre durch die Stammesverwandtschaft und durch die geschichtliche Entwickelung beider Staaten gegebenen guten Beziehungen zu England weiter zu erhalten und zu befestigen und dadurch dem eignen Interesse wie dem des Weltfriedens zu dienen«. Nicht bloß ein Krieg mit den Waffen in der Hand, dessen Nachteile der deutsche Kolonialbesitz nicht aufgewogen hätte, mußte vermieden werden, auch die Verfeindung der Nationen, die Verbitterung der Stimmung in weitern Interessenkreisen, die diplomatische Fehde durften keinen Boden finden, zumal D. in seinen überseeischen Beziehungen vielfach auf das freundschaftliche Verhalten der größern, ältern Seemacht angewiesen war. Diese Rücksichten mußten um so mehr ins Gewicht fallen, als durch die Annäherung Rußlands und Frankreichs