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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Roman, Drama).

zugleich die wilde Bestie im Menschen, einen atavistischen Trieb, zu vernichten und zu töten, weckt. Damit langt der Dichter, dessen Arbeitsweise schon genugsam bekannt ist, beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges an: auf der letzten Seite des Buches rast ein mit betrunkenen, johlenden Soldaten vollgepfropfter Zug hinter einer führerlosen Lokomotive her, deren Maschinist und Heizer sich unterwegs umgebracht haben, dem Verhängnis auf blutigen Schlachtfeldern entgegen. Der nächste Band wird nun selbstverständlich ein Kriegsbild bringen, ein so unparteiisches, verspricht Zola, wie noch keins dagewesen ist. Neben seiner ungeschlachten Titanenthat nehmen sich die beiden Romane, welche mit der »Bête humaine« den Vorzug teilten, die meist gelesenen zu sein, »Cœur de femme« von Paul Bourget und »Notre cœur« von Guy de Maupassant, fast wie Miniaturen aus, und das sind sie auch gewissermaßen mit ihrer Kleinmalerei von Empfindungen und Dingen. In dem »Frauenherzen« will der Liebling der Salonwelt den Beweis erbringen, daß ein tief angelegtes, geistig und seelisch vornehmes Wesen zwei Männer zugleich lieben kann, ein niedergehendes und ein aufgehendes Gestirn. Das Ende ist tragisch: die Heldin erkennt zu spät ihren Irrtum und büßt ihn mittelalterlich, aber darum nicht minder »fin de siècle«, im Kloster ab. »Notre cœur« zeigt ebenfalls ein Frauenbild, welches dieser seit kurzem erfundenen Kategorie angehört, aber im Rahmen der aristokratischen Gesellschaft, während es bei Bourget in die große Finanzwelt hinüberragen muß. Die geistig vielgeschäftige Kokette will nur Liebe wecken, selbst jedoch nichts geben, und macht damit einen naiven jungen Mann unglücklich, bis er durch ein schlichtes Naturkind geheilt wird. So geht es fort mit den psychologischen Studien ohne äußere Handlung und einer mehr konventionellen als wahren Vertiefung. Hierin erreicht Edouard Rod das äußerste mit »Les trois cœurs«, einem der traurigsten Selbstbekenntnisse in Romanform, welches in seinem Egoismus nicht grausamer und in seiner Grübelei nicht gewundener sein könnte. Dieser »Intuitivismus«, wie Rod seine und seiner Mitstrebenden Manier getauft hat, ist fürchterlich und kann durch die Sucht, alle Regungen zu belauschen und pessimistisch zu zerlegen, unerquicklicher werden als der derbste Realismus. Nach seiner Entstehung noch jung, aber alt und flügellahm in seinem innersten Wesen, weiß er nur noch über die Fatalität der menschlichen Anlagen zu stöhnen und leitet daraus seine laxe Moral und die Ereignisse ab.

Daneben bewährte sich der alte Weltmann Octave Feuillet noch immer in »Honneur d'artiste«, dem letzten Werk vor seinem Tode, indes Ferdinand Fabre in seinem »Abbé Roitelet« und in »Xavière« wieder sehr anmutige Geschichten aus Pfarrhaus und Cevennenwildnis, in »Un Illuminé« einen mystisch-aristokratischen Roman erzählte und Emile Pouvillon in »Chante-Pleure« nach vielen das Beste lieferte, was man bisher von diesem Idyllendichter kannte. Hector Malot bleibt in »Mère« seiner Gewohnheit treu, Vorkommnisse aus dem bürgerlichen Alltagsleben künstlerisch zu verwerten. Dieses Bild aus der reichen Geschäftswelt erinnert mit der Zuziehung des Irrenarztes gegen den Hausherrn, welcher sich den Launen der Seinigen nicht fügt, an einen öffentlichen Skandal der letzten Jahre und beleuchtet die Irrengesetzgebung von ihrer schwächsten und darum gefährlichsten Seite. An einen ähnlichen Stoff tritt Alexander Hepp in »Chaos« heran, aber mit mehr Schärfe; denn während in »Mère« die Gerechtigkeit schließlich obsiegt, geht der rechtschaffene Vater in »Chaos« unter und schnellt sein Sohn, ein Jobber und Betrüger, nach kurzem Verschwinden wieder an die Bildfläche empor. »Cadet« von Jean Richepin ist ebenfalls eine Familiengeschichte dunkelster Art, eine bäuerliche Schicksalstragödie, verfaßt in einer malerisch mit Provinzialismen aus der Picardie, wo die Handlung spielt, durchzogenen Kraftsprache. Ein neuer Roman des Akademikers Jules Claretie: »Puyjoli«, scheint aus alten Schubladen hervorgekramt zu sein, »Port Tarascon« von A. Daudet, das Ende seines »Tartarin«, bleibt weit hinter dem Anfang, »Tartarin de Tarascon«, zurück, wie anderseits »Dernier amour« von Georges Ohnet sich durch kein Merkmal von der sonstigen Vielschreiberei dieses Glückskindes auszeichnet. Obwohl die Produktion niemals stockt und jeder Tag mehrere Romane, nach einer kürzlich aufgestellten Statistik 20, auf den Markt wirft, so war das Jahr an hervorragenden Werken entschieden arm. Manche der jungen Schriftsteller hielten weniger, als man von ihnen erwarten durfte, vielleicht weil sie sich für ihre Schöpfungen nicht die nötige Muße gönnen; so Abel Hermant in »Cœurs à part«, Robert de Bonnières in »Le petit Margemont«, Paul Hervieu in »Flirt«, während andre wiederum in ihren wahr sein wollenden Schilderungen weit über das Ziel hinausschossen, wie Octave Mirbeau in »Sébastien Roch«, Rosny in »Le Termite«, Hugues Le Roux in »Les larrons«, Paul Alexis in »Madame Meuriot«, Edgar Monteil in »Une tournée dramatique«, Maurice de Fleury in »Amours de savants«, Dubut de Laforest in »Colette et Renée«. Diesen sind die Militärschriftsteller Lucien Descaves, Reibrach, Draux anzureihen, welche es darauf anzulegen scheinen, die Kaserne und den Militärdienst bei der wehrpflichtigen Jugend verhaßt zu machen (»Sousoffs«, »La Gamelle«, »Le soldat Chapuzot«). Nur als Kuriosum sei noch des »Magiers« Joséphin Péladan erwähnt, eines Jüngers des verstorbenen Barbey d'Aurévilly, welcher es dem Meister noch weit zuvorthut an Absonderlichkeit in seiner Litteratur, aber ebensoweit hinter ihm zurückbleibt, wo es sich um wahres Talent und auch um die Würde seines bürgerlichen Daseins handelt. Der Magier hat schon eine ganze Reihe haarsträubender Romane geschrieben, deren erster »Le vice suprême« war, und deren letzter, der 14., »La vertu suprême« heißen soll. Die Titel der Zwischenglieder sind: »Curieuse«, »L'initiation sentimentale«, »A cœur perdu«, »Istar«, »La victoire du mari«, »Cœur en peine«, »L'Androgyne«, »La Gynandre«, »Le Panthée«, »Typhonia«, »Le dernier Bourbon«, »La lamentation d'Ilou«. Die sieben ersten Bände liegen schon fertig vor, die übrigen harren der Vollendung. Péladan, der sich als Rosenkranzritter Sar Merodack nennt, will Frankreich umgestalten durch einen Katholizismus, der mit der Kabbala verschweißt wäre, dem einzig Guten, was das ihm verhaßte Judentum auf die Jetztzeit herübergebracht hat, und predigt daneben die wunderlichsten Liebestheorien, welche ein zerrüttetes Nervensystem je erträumte.

Dramatische Litteratur. Lyrik.

Es ist sehr bezeichnend, wenn auch keineswegs erfreulich, daß die »freie Bühne« mit den Werken, die sie zur Aufführung brachte, im verflossenen Jahre eine Beachtung fand, die ihre Förderer selbst kaum erwartet hatten. Vielleicht lag dies an der Nichtigkeit der dramatischen Arbeiten, mit denen die meisten