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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Drama, Lyrik).

Mensch, den zeitweise nur das Klugreden über seine Instinkte vom Tiere trennt.

Sardous neuestes vieraktiges Drama »Thermidor« wurde in den beiden ersten Aufführungen der Comédie-Française tumultuarisch abgelehnt. Die dritte Wiederholung wurde auf Betreiben einer Gruppe radikaler Deputierter, die in dem Stück eine Verunglimpfung ihrer großen Revolutionshelden sah, von der Regierung verboten, das Verbot aber nach kurzer Zeit wieder aufgehoben. Das schon vor 22 Jahren begonnene, seitdem aus politischen Rücksichten viermal umgearbeitete Werk ist reich an Bühneneffekten, die Handlung aber schwach, die Charakterzeichnung mangelhaft, die Lösung unbefriedigend, und schon ehe der revolutionäre Pöbel gesprochen, hatten feinfühlige Theaterfreunde »Thermidor« verurteilt.

»L'Obstacle« von Alphonse Daudet ist eine mit Freudenthränen abschließende oberflächliche Verarbeitung des düstern Themas, welches Henrik Ibsen in den »Gespenstern« behandelt: die Heimsuchung der Sünden der Väter an den Kindern. Daudet tritt nicht an den Gegenstand heran, um ihn zu vertiefen, sondern um nachzuweisen, daß die Vererbung nur ein beängstigendes Vorurteil ist.

Die bereits angekündigte »Lutte pour la vie«, die dramatische Verwertung des Stoffes, welchen Daudet im »Immortel« behandelte, ist in dieser Gestalt als akademisches Sittenbild nicht wahrer als der Roman, auch kein gut aufgebautes Theaterstück, sondern eine Reihe von Bildern, wie die »Bûcheronne« von Charles Edmond, die aus dem Feuilleton des »Temps« auf die Bühne des Théâtre-Français versetzt wurde, und »Dernier amour« von George Ohnet. Einen ungleich höhern Wert darf man dem »Député Leveau« von Jules Lemaître zugestehen, welches als Bühnenarbeit gedacht und durchgeführt ist, in feinen Charakterzeichnungen das heutige politische Treiben veranschaulicht und nur schwach ist zum Schlusse, ähnlich wie die letztjährige »Révoltée« des geistreichen Schriftstellers. Was sonst als Sittenbild in Lustspielform über die Bretter geht, ist gewöhnlich bis zum Zerrbild gesteigert, aber mit Geist und Geschick gearbeitet, von zwei und mehr Verfassern zusammen, wenn einer nicht genügt. Da sind: »Ma cousine« von Henri Meilhac, »Les Moulinard« von Ordonneau, Valabrègue und Keroul, »Les provinciales à Paris« von Najac und Pol Moreau, »Paris fin de siècle«, »Les femmes des amis« und »Madame Mongodin« von Raoul Toché u. Ernest Blum, »Monsieur Betsy« von Méténier und Paul Alexis, »Les Vieux maris« von Antony Mars, »Les douze femmes de Japhet« von A. Mars und M. Desvallières, »De fil en aiguille« und »Ferdinand le Noceur« von Léon Gandillot, »Nos jolies fraudeuses« und »Feu Toupinel« von A. Bisson, »Un prix Montyon« und »Madame a ses brevets« von Albin Valabrègue.

Höchst bemerkenswert und mit der Gunst verwandt, der sich alles zu erfreuen hat, was an die »Jungfrau von Orléans« in Wort und Bild erinnert, ist der Reichtum an neuen Militärstücken: »La conspiration du général Malet« (fünf Akte und ein Prolog) von Auge de Lassus, »Desaix« (fünf Akte und zehn Bilder) von Gaston Maraud und Péricaud, »Le secret de la Terreuse« (aus den Vendeerkriegen) von William Busnach und Henry Cauvain, »Devant l'ennemi« von Charton, »Le Drapeau« von Emile Moreau und Ernest Depré, »Une conspiration« von Henry Fouquier und Fabrice Carré (nach einem Roman Arthur Rancs), »Le Regiment« von G. Mary und J. ^[richtig: Jules Mary und Georges Grisier] Grisier, »Marie Stuart, reine d'Écosse« (fünf Akte und acht Bilder) von Cressonnois u. Samson und »Sainte-Russie«, russisch-französisch-chauvinistisches Allianzstück in zehn Bildern, von Gugenheim und Lefaure. Nicht minder ausgiebig ist die Produktion auf dem Gebiet des Volksschauspiels, welche teilweise an Feuilletonromane anlehnt, wie »La Policière« von Xavier de Montépin und Jules Dornay und »Le crime de Jean Morel« von Cressonnois und Charles Samson, »Lucienne«, sozialistisches Drama von Louis de Gramont, »La petite Mionne« (nach Richebourg) von Gaston Marot. Außerdem sind hier noch zu nennen: »Le secret de la victime« von Léon Brésil und Valéry Vernier, »Jack l'Éventreur« (in fünf Akten und sieben Bildern) von Xavier Bertrand und Louis Clairian, »La fermière« von Armand Dartois und Henri Pagat, das letztere mit litterarischen Vorzügen ausgestattet, die man bei Werken dieser Art nicht sucht.

Lyrik. Schwerlich für die Bewunderung der Nachwelt geschaffen, aber dem Empfinden und dem Geschmack der Menge angemessen, welche in der Weltausstellung von 1889 die Besiegelung und Verherrlichung der dritten Republik begrüßt hatte, war die »Ode triomphale«, zu der Augusta Holmès, eine hochbegabte Künstlerin, wie schon zu ihrer Kantate »Pro patria«, dem Beispiel ihres verehrten Meisters Richard Wagner folgend, Musik und Text schrieb. Die entsprechende Ausstattung im Industriepalast, das Naive des leitenden Gedankens, die schön abgestufte Reihenfolge der Chöre jeden Alters und aller Stände, welche die Wohlthaten einer Frieden spendenden Republik priesen, ließen die Mängel der Dichtung vergessen, die übrigens da, wo sie etwas kindisch erscheint, es nicht mehr ist, als ähnliche Ergüsse des Propheten und Sehers der Republik, Victor Hugo. Seitdem er gestorben, erlahmt die lyrische Dichtung sichtlich oder verirrt sich in die unwirtlichen, sprachlich barbarischen Regionen der décadents, es sei denn, daß sie unterwegs im »Chat noir« hängen bleibe, einer seltsamen Herberge, wo Künstler und Verseschmiede verkehren und poetisch-musikalische Parodien und »Mysterien« aufführen, wie die abwechselnd sinnige und ausgelassene »Marche à l'Étoile« von Georges Fragerolle, die »Phryné« von Maurice Donnay und der »Roland«, Oratorio in drei Akten, Dichtung von Georges d'Esparbès, Musik von Charles de Sivry. Noch viel bemerkenswerter, formell wahrhaft schön und eigenartig in der Empfindung sind die dramatisch-lyrisch-humoristschen Dichtungen: »Tobie« und »Le mystère de la Nativité«, welche Maurice Bouchor zum Verfasser haben, von den lebensgroßen Marionetten Signorets in einer von Künstlern, wie Felix Bouchor, Lerolle, Marcel Rieder, gemalten Szenerie gespielt und in den Kulissen von Maurice Bouchor selbst und seinen Freunden Jean Richepin, Ponchon und Felix Robbe vorgetragen werden. Einer frühern Generation gehört Théodore de Banville an, der Verfasser der »Cariatides« und der »Camées«; aber er ist noch immer jung in seinen »Sonnailles et Clochettes« und ein Dichter in der »Ame de Paris«, obwohl diese in ungebundener Rede auftritt. Es gehörte ein gewisser Mut dazu, den mehrmals gemachten Versuch zu wiederholen und Heines »Lyrisches Intermezzo« ins Französische zu übersetzen. Diesen Mut besaßen Guy Ropartz und P. R. Hirsch. Sie wollten minder sklavisch verfahren als andre und gaben weniger eine wortgetreue Übersetzung als eine Bearbeitung (»œuvre composée d'après le poëme célèbre de Heine«).