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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur der Schweiz

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Französische Litteratur der Schweiz (19. Jahrh.).

stetten, der französischte aller Berner, der hier erst, wie er sagte, zu leben begann, Madame Necker de Saussure, die Kousine der Frau v. Staël, u. a.; den Mittelpunkt bildete Pyrame De Candolle, dessen umfangreiches Wissen und weltmännische Bildung eine große Anziehungskraft auf Einheimische und Fremde ausübten. Besondere Erwähnung verdient Rudolf Töpffer (1799-1846), der heitere Moralist und geschickte Karikaturenzeichner, der Verfasser der »Voyages en zigzag« und der »Nouvelles genevoises«, der mit seinen Freunden den »Courrier de Genève« (1841) gründete. Die heute angesehenste Schweizer Zeitung, das »Journal de Genève«, entsprang 1826 einem Kreise von jungen Dichtern, die sich im »Caveau genevois« zusammenfanden und die politische Chanson pflegten; die hervorragendsten unter ihnen sind Chaponnière (1769-1856) und Gaudi-Lefort. Wie diese sich an Béranger anschlossen, so andre an Lamartine und Victor Hugo; manche von diesen starben in jungen Jahren oder gerieten in eine weichliche, verschwommene Richtung; der korrekteste und eleganteste ist Charles Didier (1805-64), auch als Reisebeschreiber gelobt, der originellste Henri Blanvalet (1811-70), der wie Louis Tournier hübsche Kinderlieder gedichtet hat. A. Richard (1801-81) gilt als der erste nationale Dichter; mit seinen von starker Begeisterung getragenen Schilderungen hervorragender Ereignisse aus der vaterländischen Geschichte hatte er großartigen Erfolg bei der Jugend, geriet aber später in Vergessenheit. Ein Bindeglied zwischen dem alten und neuen Genf (der Scheidepunkt ist die Revolution von 1846, mit der ganz neue Männer zur Regierung kommen) ist der Dichter Petit-Senn (1792-1870); er hatte dem Caveau angehört, mit den Romantikern geschwärmt und von 1830 bis 1836 die Genfer mit seinem Witzblatt »Le Fantasque« erheitert. Seine gelungensten Gedichte sind die Humoreske »La Miliciade« auf die Genfer Stadtsoldaten und die geistvollen, vielleicht zu pointierten Lebensregeln: »Bluettes et Boutades«. Seinem gastfreundlichen Hause verdanken viele jüngere Kräfte Anregung und Förderung: der Fabeldichter Ant. Carteret (gest. 1889), der Historiker A. Rilliet (1809-83), der die Tell- und Grütlisage auf ihre Echtheit geprüft hat, Henri Amiel (gest. 1880), der sinnige Dichter und Geschichtschreiber der Genfer Akademie, und Marc Monnier (gest. 1884), seit 1864 Professor der vergleichenden Litteratur an der Genfer Universität, ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller und gefühl- und formvoller Dichter, dessen ausgezeichnete »Histoire générale de la littérature« leider nur bis zum zweiten Bande gediehen ist. Einer der hervorragendsten Dichter der neuen Schule ist Philippe Godet (geb. 1850), zugleich ein geistvoller Litterarhistoriker und glänzender Redner; außer verschiedenen Bänden eigner Poesien hat er die Gedichte des Freiburger Dichters Eggis und der Neuchâteller Dichterin Alice de Chambrier herausgegeben.

In Lausanne, wo bisher Fremde den Ton angegeben hatten, traten nun Einheimische an die Spitze der geistigen Bewegung; voran Alexandre Vinet (1797-1847), der treffliche Litterarhistoriker und Kritiker, der sympathische Prediger, der Vorkämpfer für Toleranz und Gewissensfreiheit und Dichter einiger schöner Kirchenlieder; dann der patriotische Dichter Juste Olivier (1807-76), der 12 Jahre neben Vinet eine Geschichtsprofessur bekleidete und einen tiefgehenden Einfluß auf die studierende Jugend ausübte. Die Revolution von 1845 entsetzte beide ihrer Stellen; aber während jenen ein gütiges Geschick bald hinwegnahm, mußte Olivier das bittere Brot der Verbannung essen und erleben, daß seine Landsleute ihn fast ganz vergaßen. Von Paris aus schrieb er seine tiefempfundenen »Chansons lointaines«, aber weder diese, noch seine Romane, noch die Vorlesungen, die er nach seiner Rückkehr (1870) in Lausanne hielt, vermochten die Teilnahme der Menge zu wecken. Neben diesen sind zu erwähnen: Charles Monnard, der formvollendete politische Redner und Publizist, J. J. ^[Jean-Jacques] Porchat, der geist- und geschmackvolle Übersetzer von Horaz, Tibull und Goethe; der Historiker Vulliemin, der Pastor von Vevey A. Ceresole, dessen »Scènes vaudoises« (1885) in waadtländischer Sprache geschrieben sind, Eugène Secrétan, der Verfasser der »Galerie suisse« (1875), seit einigen Jahren Präsident einer Gesellschaft, die sich die planmäßige Ausgrabung der Ruinen von Avenches zur Aufgabe macht, Eugène Rambert, der Verfasser der »Alpes suisses« und vortrefflicher Essais und Biographien (A. Vinet, Olivier, Calame, Javelle; vgl. die betreffenden Biographien im Hauptwerk); u. a. m.

Wie die Revolution in Lausanne die Professoren in alle Winde zerstreute, so machte sie auch 1848 in Neuchâtel der kurzen Blüte der Akademie (erst 1839 gegründet) ein jähes Ende. Hier hatte Olivier vor seiner Übersiedelung nach Lausanne gelehrt; vornehmlich aber blühten Geographie und Geologie; Männer, wie Agassiz, der Begründer der Gletschertheorie, Desor, sein Mitarbeiter und der Erforscher der Pfahlbauten und der Bronzezeit (gest. 1882), Guyot, Fr. de Rougemont, ein Schüler Karl Ritters und universaler Geist, dessen geographische Handbücher in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden sind, wirkten dort zusammen und fanden zum Teil nach der Revolution in der Neuen Welt eine zweite Heimat. Die schöngeistige Litteratur war nur schwach vertreten: das Konsistorium übte eine zu strenge Zensur. 1883 hat sich eine Anzahl jüngerer Schweizer und französischer Schriftsteller zu dem Zwecke zusammengethan, die litterarische Annäherung beider Länder zu fördern; ihr Organ ist die »Revue suisse romande« und ihr Haupt Adolphe Ribaux (geb. 1864), der einige Bände »Poésies« veröffentlicht hat. Ganz ungewöhnliches Aufsehen haben vor einigen Jahren die hinterlassenen Gedichte eines mit 21 Jahren verstorbenen jungen Mädchens, Alice de Chambrier (1861-82), hervorgerufen, die von Ph. Godet unter dem Titel: »Au delà« veröffentlicht wurden und in kurzer Zeit vier Auflagen erlebten; es werden ihnen Gedankentiefe, elegante Form und energischer Stil sowie vollständiger Mangel an verschwommener Sentimentalität nachgerühmt.

Der katholische Teil der französischen Schweiz, Freiburg und Wallis, spielt in der litterarischen Bewegung nur eine untergeordnete Rolle. In Freiburg wirkte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts der Jesuit Girard (gest. 1840), ein liberaler und vorurteilsfreier Mann, der durch seine praktische und theoretische Pädagogik sich die allgemeine Anerkennung erwarb und für seinen »Cours de langue« den großen Preis Monthyon erhielt. 1841 wurde die Zeitschrift »L'Émulation« gegründet, die für den katholischen Teil der Schweiz das war, was die »Revue suisse« (gegründet 1838, 1861 verschmolzen mit der »Bibliothèque universelle«) für den protestantischen. Aus der neuern Zeit ist Pierre Sciobéret (1830-1876) zu erwähnen, ein guter Märchenerzähler, dessen »Scènes de la vie champêtre« in 2 Bänden von Ayer