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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Grimm; Grippe

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Grimm - Grippe.

Grimm, 7) Karl Ludwig Wilibald, protest. Theolog, starb 24. Febr. 1891 in Jena.

Grippe (Influenza), eine Infektionskrankheit, welche wie kaum eine andre die Neigung hat, in gewissen großen Zeitabschnitten nicht nur ganze Länderstrecken, sondern sogar ganze Erdteile oder gar Erdhemisphären zu überziehen. Sie ist eine »Pandemie« in des Wortes eigentlichster Bedeutung. Da dieselbe seit 1874/75 nicht mehr in großer Verbreitung auftrat, speziell Deutschland (mit Ausnahme Bayerns) seit 1857/58 keine große Grippe-Epidemie mehr sah, war die Krankheit ziemlich in Vergessenheit geraten, als der Winter 1889/90 uns wieder eine echte typische Grippe-Pandemie brachte. Die ersten Nachrichten über dieselbe liefen aus Tomsk in Sibirien, und zwar vom 15. Okt. russischer Zeitrechnung, ein; von da überzog sie binnen 14 Tagen alle größern Städte des europäischen Rußland, gelangte Anfang Dezember unsrer Zeitrechnung nach Galizien und Österreich, insbesondere nach Krakau und Wien. Gleichzeitig erreichte sie Skandinavien, speziell Helsingfors und Stockholm, dann Kopenhagen. Ebenfalls schon Ende November, jedoch als Skandinavien schon heimgesucht war, wurde Deutschland ergriffen und zwar zunächst die großen Seestädte: aus Danzig, Stettin, Kiel liefen die ersten Meldungen in den letzten Tagen des Novembers über G. im deutschen Heere ein. Einmal in den deutschen Seestädten angelangt, war die Epidemie auch schnell in Berlin, dann folgte sofort eine Reihe großer, teilweise weit entfernt gelegener Städte, wie Breslau, Hannover, Köln, Mainz. Gleichfalls schon Anfang Dezember (um den 5.) begannen die massenhaften Erkrankungen im Magasin du Louvre zu Paris, erst später folgten manche andre, zwischen Paris und den östlichen, schon früher befallenen, gelegene große Städte; so wurde München nach Wien und Paris befallen. Aus New York liefen die ersten Nachrichten über G. etwa 14 Tage nach dem Beginn der Erkrankungen im Magasin du Louvre ein; nach England und Spanien scheint die G. erst gegen Ende Dezember gelangt zu sein; oberitalienische Städte ergriff sie vor den südlich gelegenen.

Die Frage, wie man sich die Ausbreitung der G. zu denken habe, war auch bei frühern Epidemien stets eine vielumstrittene gewesen; besonderes Interesse hatte sie aber bei der neuesten, weil sich in den letzten Jahren die Anschauungen über die Verbreitung von Infektionskrankheiten infolge genauerer Kenntnis der Erreger vieler derselben wesentlich geändert haben Schon früher waren im wesentlichen drei Ansichten verbreitet: nach der ersten sollte durch irgend welche Witterungs- oder Bodeneinflüsse mit einemmal an den verschiedensten Orten der Welt das Grippemiasma entstehen können. Nach der zweiten Anschauung sollte das Miasma nur an einem bestimmten Orte entstanden oder schon vorhanden gewesen sein und sollte durch Luftströmungen über Länder und Meere hin befördert werden können. Nach der dritten Anschauung endlich wurde die Krankheit für »kontagiös«, d. h. vom Menschen auf den Menschen übertragbar, gehalten, und ihre Verbreitung sollte durch den Verkehr vermittelt werden. Die erste dieser drei Anschauungen ist als längst widerlegt zu betrachten, denn einmal können niemals, während eine Pandemie in wenigen Wochen oder Monaten fast den ganzen Erdkreis überzog, allenthalben dieselben Witterungsverhältnisse bestanden haben; zweitens ist diese Anschauung mit unsern jenigen Kenntnissen von der Natur der spezifischen Krankheitserreger nicht vereinbar. Die zweite Annahme ist bisher im wesentlichen die herrschende gewesen und zählt noch viele Anhänger: sie stützt sich hauptsächlich auf die Beobachtung, daß viele Epidemien in der Wahl ihres Verbreitungswegs einer bestimmten Himmelsrichtung folgten, insbesondere daß dieselben in frühern Jahrhunderten stets von Westen nach Osten, später stets von Osten nach Westen gewandert seien; auch die neueste Epedimie ^[richtig: Epidemie] hat ihren Zug von Nordosten nach Südwesten genommen. Die genannte Beobachtung ist jedoch nicht für alle Epidemien gültig; es kamen auch Epidemien vor, welche von Norden nach Süden und umgekehrt zogen. Hauptsächlich aber wird diese zweite Anschauung durch diejenigen Argumente bekämpft, welche für die dritte sprechen, d. h. für die Annahme, daß die G. sich nicht von Luftströmungen, sondern vom Verkehr abhängig zeige. Besonders die neueste Epidemie hat hierfür zahlreiche und gewichtige Beweismittel beigebracht: Es sind in erster Linie überall zuerst die großen Städte befallen worden, und erst von diesen aus drang die Seuche in die kleinern Orte und aufs platte Land. Nicht selten wurde auch ein Überspringen dazwischen gelegener, gleichfalls großer, aber nicht so sehr im Weltverkehr liegender Städte beobachtet (vgl. das erwähnte Verhalten von München gegenüber Wien und Paris), welches durch die Annahme von Luftströmungen nicht erklärt werden könnte. Ferner hätten bei der genannten Annahme die italienischen Städte mehr gleichzeitig befallen werden müssen, dagegen ist hier die Ausbreitung der Seuche ganz den Landweg gegangen. Gewissermaßen eine Probe aufs Exempel wurde von denjenigen, welche G. für kontagiös halten, angestellt durch folgenden Schluß: ist die Krankheit vom Verkehr abhängig, so muß sie jetzt, bei den beschleunigten Verkehrsmitteln, auch rascher ihren Lauf nehmen. Da fand sich denn, daß beispielsweise, wie schon erwähnt, die Epidemie schon 14 Tage nach ihrem Beginn in Paris sich bereits in New York zeigte (die Überfahrt dauert 8-10 Tage). Ferner stellt der Bericht über »Die Grippe-Epidemie im deutschen Heere 1889/90« fest, daß 1833 die G. 3 Monate brauchte, um sich über die größern Garnisonen Deutschlands zu verbreiten, während diesmal hierzu wenige Tage genügten, und innerhalb von 5 Wochen die Epidemie auch die kleinsten und entlegensten Garnisonen erreicht hatte. Eine Hauptstütze derjenigen Anschauung, welche in einem durch Luftströmungen fortbewegten Miasma den Verbreitungsmodus der G. sieht, ist das Befallenwerden von Schiffen auf hoher See, wenn gleichzeitig auf den zunächst gelegenen Küstenstrichen G. herrschte und gleichwohl in dem zuletzt angelaufenen Hafen von G. noch nichts bekannt war. Diesem Beweismittel, welches schon an sich nicht ganz überzeugend klingen will, steht das andre gegenüber, daß häufig schon durch Schiffe die G. auf Inseln (so nach Island) gebracht wurde, woselbst sie zuvor nicht gewesen war, wiewohl sie über den ganzen Kontinent sich verbreitet hatte. So haben sich denn, veranlaßt durch die genannten und viele ähnliche Beobachtungen bei der letzten Epidemie, die meisten Ärzte der Überzeugung zugewendet, daß man es bei der G. mit einer kontagiösen Krankheit zu thun habe, wobei jedoch die Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit, daß auch gewisse klimatische Einflüsse bei der Ausbreitung der G. mit ins Spiel kommen können, nicht geleugnet werden soll. Eine Anschauung, welche versucht, den mehr bakteriologischen mit dem mehr meteorologischen Standpunkt, jedoch zu gunsten des letztern, zu vereinigen, ist die von Aßmann, welcher nachweist, daß während des Höhepunktes der Grippeverbreitung im Monat Dezember über ganz Mitteleuropa eine wegen bedeckten