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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Krankheitsverbreitung

501

Krankheitsverbreitung (Tuberkulose, Wechselfieber, Diphtherie).

^[Liste]

des Deutschen Reiches (ca. 200) 0,5 Pers.

Österreichs 37 -

Ungarns 118 -

Englands 5 -

Italiens 50 Pers.

Belgiens 18 -

Schwedens 0,2 -

Frankreichs 39 -

Die außerordentlich günstige Stellung, welche hinsichtlich der Pockentodesfälle die Staaten mit gesetzlich geregelter Impfpflicht, also Schweden und das Deutsche Reich, demnächst England (letzteres ohne Wiederimpfpflicht), einnehmen, wird am deutlichsten durch das Diagramm auf S. 500 versinnbildlicht.

Für eine Reihe andrer Volkskrankheiten muß man sich mit den Ergebnissen der allgemeinen Erkrankungsstatistik begnügen. Diese aber beruht einerseits auf der für gewisse gemeingefährliche Krankheiten in vielen Staaten eingeführten Anzeigepflicht, anderseits auf den aus ärztlich geleiteten Heilanstalten (namentlich den allgemeinen Krankenhäusern) vorliegenden Ausweisen. Die erstere Art der Erkrankungsstatistik ist nach Lage der Verhältnisse eine sehr unvollständige, da der Anzeigepflicht nur für einen (je nach der Energie der überwachenden Behörden wechselnden) Bruchteil der Erkrankten genügt wird. Die letztere, die Heilanstaltsstatistik, umfaßt zwar ebenfalls nur einen Teil der erkrankten Bevölkerung, ist aber in sich vollständig und eher für epidemiologische Schlüsse verwertbar.

Die Ergebnisse der Heilanstaltsstatistik werden für das Deutsche Reich, ferner für Österreich, Italien, Schweden und andre Staaten ziemlich regelmäßig veröffentlicht und gewähren schon jetzt ein sehr beachtenswertes Bild von der Häufigkeit der in den Krankenhäusern zur Behandlung kommenden Leiden. Im Deutschen Reiche, wie auch z. B. in Österreich und Italien, werden alljährlich von je 1000 Einwohnern 11-12 in den Heilanstalten verpflegt, aus einem Vergleich der in den Heilanstalten beobachteten Krankheiten darf man daher Rückschlüsse auf eine entsprechende Morbidität der Bevölkerung der drei Länder machen, und diese Heilanstaltsstatistik hat schon wertvolle Anhaltspunkte über die Verbreitung einiger wichtiger Krankheiten geliefert. Die Berechtigung, aus dem Heilanstaltsmaterial beachtenswerte Schlüsse auf die Erkrankungsverhältnisse der Bevölkerung zu ziehen, ist nicht wohl zu bestreiten, da allein die allgemeinen Krankenhäuser jährlich einen Zugang von mehr als ½ Mill. Krankheitsfälle haben, deren ärztlicherseits gestellte Diagnose als zuverlässig gelten kann. Mindestens von den Erkrankungsverhältnissen der in den Krankenhäusern vorwiegend vertretenen Altersklassen, d. h. des im erwerbsthätigen Alter von 15-60 Jahren stehenden Teiles der Bevölkerung, dürfte die Heilanstaltsstatistik ein annähernd zutreffendes Bild gewähren. Um einen Vergleich zwischen den verschiedenen Gebietsteilen des Reiches zu ermöglichen, muß man für jeden deutschen Bundesstaat und für jede preußische Provinz ermitteln, in welchem Verhältnis zur Gesamtzahl aller Erkrankungen die hauptsächlichsten Krankheiten und Krankheitsgruppen jährlich beobachtet worden sind. So findet es sich¹, daß der Prozentsatz der an Tuberkulose und Lungenschwindsucht leidenden Kranken nur in gewissen starkbevölkerten Gebieten des Reiches regelmäßig besonders groß ist. Im Königreich Sachsen, in Hessen, der Rheinprovinz entfielen von je 1000 Krankheitsfällen jährlich 46-54, dagegen z. B. in den beiden Mecklenburg und Ostpreußen jährlich nur 21-29 auf die genannten Leiden. Fast immer zeigt es sich (wenn man aus annähernd gleich großen Gebietsteilen gleiche Summen von Krankheitsfällen in Betracht zieht), daß die Verhältniszahl der Schwindsuchtsfälle in dem dichter bevölkerten Landstrich größer, in dünn bevölkerter Gegend geringer ist (vgl. die Karte). Ein andres Resultat wird gewonnen, wenn man die Häufigkeit aller Erkrankungen der Atmungsorgane, unter denen die akuten und chronischen Katarrhe der Luftwege eine große Rolle spielen, untersucht. Die wenigsten Kranken dieser Art hatten insbesondere die Seeufergebiete, also Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Hannover, Pommern, während im Südwesten und Westen des Reiches, namentlich in Elsaß-Lothringen, Westfalen, Hessen-Nassau, Hessen und Bayern die höchsten Ziffern sich fanden. Ein nicht überraschendes, aber immerhin bemerkenswertes Ergebnis liefert auch das Studium der Verbreitung des Wechselfiebers. Es zeigt sich, daß diese Krankheit im Deutschen Reiche seit 1877 stetig an Häufigkeit abgenommen hat. Von je 1000 neu zugegangenen Krankheitsfällen entfielen auf das Wechselfieber von 1877 bis 1885 nacheinander: 12,3, 10,7, 9,6, 9,2, 9,2, 7,2, 5,8, 4,7, 4,1 Fälle. Während der letzten Jahre war es hauptsächlich noch in den Flußgebieten der Weichsel, Oder und Warthe, in Oldenburg und in Ostpreußen (dessen Haffgegenden ein günstiges Malariaterrain abgeben) häufiger beobachtet. Aus Hamburger Krankenhäusern werden jährlich zahlreiche Fälle von tropischem Malariafieber bei Seeleuten angezeigt. Wie diese stetige Abnahme der Wechselfieber im Deutschen Reiche im allgemeinen für die Besserung sanitärer Verhältnisse zeugt, so darf man einen gleichen Beweis hierfür unter Umständen aus einer konstanten Abnahme der Typhus erkrankungen entnehmen. In dieser Hinsicht ist unter anderm auf die stetige Abnahme der Typhusmorbidität in den Heilanstalten Berlins hinzuweisen. Von je 1000 Krankheitsfällen entfielen hier auf Unterleibstyphus und gastrisches Fieber 1880: 43,9, 1881: 33,5, 1882: 32,0, 1883: 22,3, 1884: 24,9, 1885: 18,5, 1886: 16,5. Dem gegenüber ist z. B. für das Hamburger Staatsgebiet eine ebenso deutliche Zunahme der Typhuserkrankungsziffer nachgewiesen, und zwar von 1883 bis 1886 von 18,5 auf 25,7, 51,6 und 69,4 Proz. aller Krankheitsfälle.

Die Diphtherie spielt in der Heilanstaltsstatistik, trotzdem sie vorzugsweise eine jüngere, in den Krankenhäusern wenig vertretene Altersklasse befällt, doch eine bedeutende Rolle (von 100 Todesfällen entfielen 5-6 auf Diphtherie). Weitaus am meisten scheint die Diphtherie nach den vorliegenden Vergleichsziffern in den Gegenden der Norddeutschen Tiefebene verbreitet gewesen zu sein, denn in den Großherzogtümern Mecklenburg-Schwerin u. Mecklenburg-Strelitz, den preußischen Provinzen Schleswig-Holstein, Pommern, Sachsen, Hannover, Brandenburg, endlich in dem gleichfalls zur Norddeutschen Tiefebene gehörigen Herzogtum Anhalt waren die Fälle von Diphtherie nicht nur im Vergleich zu allen übrigen Krankheiten, sondern hauptsächlich im Vergleich zu andern Infektionskrankheiten des jugendlichen Alters am zahlreichsten vertreten. Auch in Berlin und im Königreich Sachsen (bez. in dessen Hauptstädten Dresden, Leipzig und Chemnitz, wo mehr als die Hälfte aller sächsischen Kranken behandelt wurde) war Diphtherie verhältnismäßig sehr häufig.

Vergleiche mit auswärtigen Ländern ergeben, daß die Diphtherie im vorletzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in deutschen Krankenhäusern eine weit größere.

¹ Die nachstehenden Zahlenangaben wie auch die der kartographischen Darstellung zu Grunde liegenden Ziffern sind einer Zusammenstellung der Ergebnisse der Heilanstaltsstatistik in Bd. 4 der »Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamt« entnommen.