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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Arbeitslohn

marktes durch Angebot und Nachfrage und stellt somit den Preis der Ware Arbeit dar. Gleichwohl ist die Arbeit nicht eine Ware wie jede andere. Sie ist vielmehr von allen andern dadurch wesentlich unterschieden, daß sie in einem untrennbaren Zusammenhange mit der Persönlichkeit steht. Seitdem die Arbeiter (s. d.) der Sklaverei und Leibeigenschaft entwachsen sind, ist es eine socialpolit. Notwendigkeit, Vorkehrungen zu treffen, daß die Warennatur der Arbeit die freie Persönlichkeit des Trägers der Arbeitskraft nicht schädige. Diese Rücksichten haben dahin geführt, durch gesetzliche Bestimmungen über die Frauenarbeit (s. d.) und Kinderarbeit (s. d.), aber auch durch anderweitige Vorschriften vor allem die in Fabriken beschäftigten Arbeiter da zu schützen, wo sie als besonders schutzbedürftig sich erwiesen, sowie der Freiheit des Arbeitervertrages gewisse Grenzen zu ziehen (s. Fabrikgesetzgebung). Außerdem wurde durch Aufhebung des Koalitionsverbots (s. Streik) den Arbeitern die Möglichkeit gegeben, bei der Bemessung des Lohns der Macht des Kapitals die Macht ihrer Vereinigung entgegenzusetzen. Wie es verschiedene Arbeiterklassen (s. Arbeiter) giebt, so giebt es auch verschiedene Lohnklassen; jede Arbeiterklasse hat ihre besondere durchschnittliche Lohnhöhe. Die unterste Grenze des Lohns findet man bei den "ungelernten" Arbeitern, den Tagelöhnern, und diese fällt in der Regel zusammen mit dem notdürftigen Unterhaltsbedarf des Arbeiters und seiner Familie. Wird dieses Existenzminimum (s. d.) nicht gewährt, so tritt allmählich eine solche Verminderung der Arbeitskräfte (durch Auswanderung und erhebliche Sterblichkeit, namentlich der Kinder) ein, daß der Lohn wegen des günstigern Verhältnisses von Angebot und Nachfrage sich hebt. Nach dem "ehernen Lohngesetze" Ricardos (Lassalles) soll aber der Lohn sich niemals dauernd über dem Minimum erhalten können, weil durch die Vermehrung der Bevölkerung bald wieder ein vermehrtes Angebot eintrete. Indes widerspricht dieser Ansicht schon die von Ricardo zugegebene Thatsache, daß das Existenzminimum, die Lebens Haltung (standard of life) des Durchschnittsarbeiters, nicht nur in dem einen Lande höher steht als in dem andern, sondern auch in demselben Lande mit der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich steigt. Der organisierte Widerstand der Arbeiter und ihr natürliches Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber einer willkürlichen Lohnherabsetzung seitens der Unternehmer haben den Erfolg gehabt, daß die Schwankungen der Löhne nicht mehr so stark sind. Immerhin können sie aber nicht ganz verhindert werden, und der Ausstand als Waffe gegen solche Maßregeln fordert große Opfer und legt den Beteiligten oft harte Entbehrungen auf. Vor allem ist zu beachten, daß den Arbeitern, die in den gedrücktesten Verhältnissen leben, das Koalitionsrecht bisher fast nichts genützt hat. So bei den Webern und den Arbeitern und Arbeiterinnen der Konfektionsbranchen, wo die hausindustrielle Vetriebsform eine Zusammenfassung der Arbeitermasse sehr erschwert. Auch die Unternehmerverbände können leicht die A. ungünstig beeinflussen, da sie Aussperrungsmaßregeln für alle Betriebe eines Industriezweiges ermöglichen.

Auch die ältere engl. Lehre vom Lohnfonds ist unhaltbar. Nach derselben wäre die Zahl der beschäftigten Arbeiter und die Durchschnittshöhe des Lohns abhängig von dem für die Lohnzahlung verfügbaren Kapital in den Händen dcr Unternehmer. In Wirklichkeit aber ist die Nachfrage nach dem Produkt der Arbeit seitens der zahlungsfähigen Konsumenten das entscheidende Moment für die Ausdehnung der Produktion und die Beschäftigung von Arbeitern. Es geht hieraus hervor, daß die Unternehmer nur eine vermittelnde Rolle spielen; sie können bei genügender Organisation des Kredits stets die Verfügung über so viel Produktionsmittel erhalten, als zur Befriedigung der Konsumtionsnachfrage erforderlich ist.

Jedenfalls aber hat der Lohn auch eine obere Grenze: sie ist bestimmt durch den Wert, den die Arbeit für den Unternehmer hat. Dieser verlangt berechtigterweise Kapitalgewinn, Vergütung seiner eigenen Thätigkeit und eine Prämie für das Risiko, dem er sich durch die Abfindung der Arbeiter und die Übernahme des Produkts auf seine Rechnung ausgesetzt hat. Muß der Unternehmer eine Lohnerhöhung bewilligen, so sucht er sich durch Preissteigerung des Erzeugnisses schadlos zu halten; vermindert sich aber dadurch der Verbrauch, so wird er seinen Betrieb beschränken oder einstellen oder vielleicht ruiniert werden, die Nachfrage nach Arbeit sich also vermindern. Diese Wendung kann in ungünstigen Zeiten schon eintreten, ehe der Lohn die Höhe erreicht hat, die man als die normale betrachten muß, bei welcher er nämlich die Selbstkosten der Arbeit deckt. Diese bestehen nicht nur in dem oben erwähnten Unterhaltsbedarf, sondern schließen auch Versicherungskosten ein für den Fall, daß der Arbeiter durch Alter, Krankheit oder Unfall erwerbsunfähig wird oder daß er mit Hinterlassung einer hilflosen Familie stirbt. Wenn in solchen Fällen die Armenpflege helfen muß, so ist das ein Beweis, daß die Industrie ihre Kosten nicht vollständig deckt. Man hat vielfach nach dem "gerechten", nach dem "naturgemäßen" Lohn gesucht und damit die Lösung eines Problems angestrebt, welches nicht gelöst werden kann. Alle Verteilung der Güter beruht auf dem entgeltlichen Austausch derselben. Es fehlt aber ein Maßstab, an welchem und mit welchem man messen könnte, ob die thatsächlichen Preise gerechte sind oder nicht. Es ist unmöglich, den Anteil der persönlichen Leistung der einzelnen erzeugenden Kräfte an dem Gesamterzeugnis zu ermitteln. Alle Versuche nach dieser Richtung (s. Thünen) sind erfolglos geblieben. So kann man auch nicht daran denken, durch staatliche Lohnfeststellungen den A. zu bestimmen. (S. Socialismus.) Wohl aber ist es Aufgabe des Staates, durch eine rationelle Socialpolitik, Gewährung des Koalitionsrechts (s. d.), Einrichtung von Einigungsämtern (s. d.) u. s. w. dahin zu wirken, daß auch die Arbeiter ihre Interessen gegenüber den kapitalkräftigen Unternehmern vertreten können. Daß die Einigungsämter thatsächlich die Lohnbewegung beeinflussen können, hat man immer bezweifelt, und in Deutschland wandte man sich bisher bei Lohnstreitigkeiten allgemeiner Natur nicht an sie. Es ist daher bemerkenswert, daß 1895 zum erstenmal bei dem Leipziger Maurerstreik das Gewerbegericht als Einigungsamt angerufen worden ist und nach kurzer Thätigkeit den Streik beigelegt hat. Die Fabrikgesetzgebung (s. d.) beeinflußt mittelbar die Lohnhöhe (durch Verbot der Kinderarbeit u. s. w.) in einer für die Arbeiter günstigen Weise, die Arbeiterversicherung (s. d.) sichert dem Arbeiter seine Existenz auch in der Zeit, wenn seine Arbeitskraft versiegt. Alle diese Maßnahmen beeinflussen die Lohnbildung und führen die umstrittene Frage nach dem gerechten A. ihrer praktischen Lösung so nahe, wie es möglich ist.