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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Berufung (juristisch)

und der Schwurgerichte in sehr beschränktem Maße nur hinsichtlich des Ausspruchs über die Strafe und über privatrechtliche Ansprüche. Gegen Urteile der Bezirksgerichte wegen Übertretungen findet nach ßß.463fg. der Österr. Strafprozeßordnung die B. an den Gerichtshof erster Instanz als einziges Rechtsmittel statt, mittels dessen auch Nichtigkeitsgründe geltend gemacht werden können und die Entscheidung der Schuldfrage auch durch neue Anführungen und Beweise angefochten werden darf.

Nach der Deutschen Strafprozeßordnung muß die B. bei dem Gerichte erster Instanz binnen einer Woche nach Verkündung (bei Verkündung in Abwesenheit des Angeklagten nach Zustellung) des Urteils zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder schriftlich eingelegt werden. Die rechtzeitige Einlegung bewirkt, daß das Urteil, soweit es angefochten ist, nicht rechtskräftig wird. Nach derselben ist das Urteil mit den Gründen, sofern dies noch nicht geschehen, dem Beschwerdeführer zuzustellen, der binnen einer weitern Woche nach Ablauf der Einlegungsfrist oder nach der später erfolgten Zustellung das Rechtsmittel ebenfalls bei dem Gericht erster Instanz zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder schriftlich rechtfertigen kann. Ist die B. auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt, so unterliegt das angefochtene Urteil nur insoweit der Prüfung des Berufungsgerichts; ist dies nicht geschehen oder eine Rechtfertigung überhaupt nicht erfolgt, so gilt das ganze Urteil als angefochten; doch darf auch dann auf eine vom Angeklagten oder zu dessen Gunsten eingelegte B. keine Abänderung zu seinem Nachteile (reformatio in pejus) erfolgen. Hinsichtlich der Begründung unterliegt die B. keiner Beschränkung; insbesondere kann sie auf neue Thatsachen und Beweismittel gestützt werden. Das Amtsgericht kann die B. durch Beschluß als unzulässig verwerfen, wenn sie verspätet eingelegt ist, wogegen der Beschwerdeführer binnen einer Woche nach Zustellung des Beschlusses auf die Entscheidung des Berufungsgerichts antragen kann, was jedoch die Vollstreckung nicht hemmt. Das Berufungsgericht kann das Rechtsmittel, falls es die Bestimmungen über dessen Einlegung nicht für beobachtet erachtet, durch Beschluß als unzulässig verwerfen; andernfalls entscheidet es über dasselbe nach vorgängiger Hauptverhandlung durch Urteil. Zur Hauptverhandlung sind in der Regel die in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen zu laden und ist im übrigen bei Auswahl derselben auf die vom Angeklagten zur Rechtfertigung der B. benannten Personen Rücksicht zu nehmen. In der Hauptverhandlung erfolgt nach Verlesung des Urteils erster Instanz und Vortrag eines Berichterstatters über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme. Bei der Berichterstattung und der Beweisaufnahme dürfen Protokolle über Aussagen der in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen ohne Zustimmung der Prozeßbeteiligten nicht verlesen werden, wenn die wiederholte Vorladung derselben erfolgt oder von dem Angeklagten rechtzeitig vor der Hauptverhandlung beantragt worden war.

Nach dem Schluß der Beweisaufnahme werden der Staatsanwalt und der Angeklagte, und zwar der Beschwerdeführer zuerst, gehört. Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. Ist weder der Angeklagte noch zulässigenfalls (s. Abwesenheit) ein Vertreter desselben erschienen, so ist die von ihm eingelegte B. ohne weiteres zu verwerfen, über die von der Staatsanwaltschaft eingelegte B. aber entweder zu verhandeln oder die Vorführung des Angeklagten anzuordnen. (S. auch Ungehorsamsverfahren und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.) Im übrigen verwirft das Berufungsgericht entweder die B. oder hebt, falls es dieselbe als begründet erachtet, das angefochtene Urteil auf und erkennt dann entweder in der Sache selbst oder verweist die Sache bei Verletzung von Rechtsnormen über das Verfahren in die Vorinstanz zurück (Deutsche Strafprozeßordn. §§.355 fg.). Berufungsgerichte sind die Strafkammern der den Amtsgerichten übergeordneten Landgerichte. Sie sind in der Berufungsinstanz bei Übertretungen und in Privatklagesachen mit drei Richtern, in allen andern Fällen mit fünf Richtern, einschließlich des Vorsitzenden, besetzt.

Bei der umfassenden Bedeutung der B. und da gegen die Berufungsurteile der Strafkammern noch die Revision (s. d.) wegen Verletzung des materiellen Gesetzes zulässig ist, scheint für die geringern Straffälle jede mögliche Gewähr gerechter Entscheidung gegeben zu sein. Anders bei den schwerern Fällen, die der Zuständigkeit der Strafkammern oder des Schwurgerichts unterliegen. Wenn nun auch mit dem Wesen des Schwurgerichts (s. d.) eine auf wiederholte thatsächliche Prüfung beruhende höhere Instanz nicht vereinbar sein mag und demgemäß Schwurgerichtsurteile überall und von jeher nur der Anfechtung aus Rechtsgründen, also jetzt mittels der Revision, unterworfen sind, so erscheint doch die Forderung der Einführung der B. gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern nicht unberechtigt. Der Entwurf der Deutschen Strafprozeßordnung wollte die B. gänzlich beseitigen, weil er dieselbe grundsätzlich mit der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens und der von allen Regeln befreiten Beweiswürdigung nicht vereinbar hielt und weil bei der bisherigen verschiedenen Gesetzgebung der Einzelstaaten mehr Klagen über die - meistens allerdings sehr unvollkommen gestaltete - B. als über den Mangel derselben laut geworden waren; die Reichstagskommission wollte ursprünglich die B. sowohl für schöffengerichtliche als auch für landgerichtliche Strafsachen einführen. Zwischen diesen beiden folgerichtigen Wegen einigte man sich in zweiter Lesung auf den Mittelweg, daß man die B. nur in schöffengerichtlichen Strafsachen zuließ. Die strenge Durchführung des Grundsatzes der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit spricht zweifellos gegen die B.; denn selbst wenn die Verhandlung in der Berufungsinstanz eine vollständig neue ist, so sind doch die Zeugen nicht mehr so unbefangen als in der ersten Instanz; einesteils fühlen sie sich durch den dort geleisteten Eid gebunden, andernteils ist durch die inzwischen verlaufene Zeit ihre Erinnerung abgeschwächt, der Unterschied ihrer eigenen Wahrnehmung und dessen, was in erster Instanz verhandelt ist, leicht verwischt. So kann es geschehen, daß die wiederholte Beweisaufnahme ein minder treues Bild der Wirklichkeit giebt als die erste. Für die B. spricht ebenso entschieden die Erfahrung, daß der erste Richter vielleicht häufiger noch als in der Gesetzesanwendung bei Beurteilung des Beweisergebnisses irrt, daß aber auch, abgesehen von dem Irrtum des Richters, der vor der Strafkammer in der Regel ohne Verteidiger erscheinende Angeklagte häufig erst durch die Hauptverhandlung, wenn nicht gar