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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

der Germanen erlagen, da erwuchs in diesen nationales Selbstgefühl und histor. Bewußtsein. Den poet. Ertrag dieses german. Heldenzeitalters barg die deutsche Heldensage (s. d.). Sie vertritt bei den Germanen die Geschichte; der Historiker der Goten, Jordanis, der der Langobarden, Paulus Diaconus, der der Franken, Gregor von Tours, schöpften aus Heldenliedern und Heldensage, die ihre erste Blüte bei den Goten, dem begabtesten der damaligen deutschen Stämme, erlebte. Got. Fürsten, wie Ermanrich und namentlich Theoderich d. Gr., ihre Freunde und Feinde, wie Attila und Odoaker, traten in den Mittelpunkt der Sage, die durch fahrende Sänger in alle Teile Deutschlands getragen wurde. Die nahe Berührung mit der antiken Kultur verlieh den Goten und den mit Unrecht verrufenen Vandalen eine hohe Bildung; ihre Könige dichteten lateinisch und deutsch; ihre Sänger waren so berühmt, daß der Frankenkönig Chlodwig sich von Theoderich einen got. Sänger erbat. Der Bischof der zum arianischen Christentum übergetretenen Westgoten, Vulfila oder Ulfilas (s. d.), setzte zuerst eine deutsche Schrift an die Stelle der Runen; er übertrug die Bibel ins Gotische und gab damit den Anstoß zu andern theol. Arbeiten in got. Sprache (skeireins, Kalender). Daß sein Vorgang nicht nachhaltiger wirkte, lag an dem von der orthodoxen röm. Kirche verketzerten Arianismus der Goten, der auch politisch ihr Verhängnis wurde.

Politisch wie geistig erbte ihre führende Stellung der seit Chlodwig (496) orthodox christl. Stamm der Franken. Nicht so genial produktiv wie die Goten, besaßen sie mehr die Gabe der Ausgestaltung. Bei ihnen bildete sich um 600 aus dem frank. Siegfriedmythus durch Verbindung mit der burgund. Gunthersage, mit Elementen der merowing. Geschichte, endlich mit Teilen der got. Sage das bedeutendste Glied der deutschen Heldensage, die Nibelungensage, vor der sogar der Sagenkreis Dietrichs von Bern, noch mehr die frank. Sagen von Hug- und Wolfdietrich, von Walther und Hildegunde und die in den Wikingerzügen des 8. Jahrh. aus alten Mythen herausgewachsene Gudrunsage zurücktreten. Verbreitet wurden all diese Sagen oder Sagenkomplexe durch strophische Einzellieder; nur ein einziges, das Hildebrandslied (s. d.) in seiner erhaltenen Gestalt aus dem Ende des 8. Jahrh., ist bruchstückweise auf uns gekommen. In ein anderes Gebiet der ausgehenden heidn. Dichtung gewähren Einblick die aus dem 8. bis 10. Jahrh. erhaltenen Zaubersprüche und Segen, die teils rein heidnisch sind, wie die Merseburger Sprüche, teils oberflächlich christlich übertüncht. Von all den andern poet. Gattungen der merowing. und früh-karoling. Zeit, von denen Glossen und Zeugnisse melden, den Fest- und Schlacht-, den Braut- und Leichengesängen, den Spott- und Lehrversen, den Rätseln und Gleichnissen, den Hirten- und Schifferliedern, selbst von den gewiß reich vertretenen Liebesliedern (winileot) und Liebesgrüßen ist so gut wie nichts mehr vorhanden, dank dem rücksichtslosen Haß, mit dem die bekehrende christl. Kirche nicht nur alle heidnische, sondern überhaupt alle weltliche Dichtung verfolgte. Sie hat die Sangeslust unsers Volks nicht auf die Dauer hemmen können, aber die Kunde von seiner poet. Vergangenheit hat sie schwer verkümmert.

II. Althochdeutsche Periode (etwa 750-1050). Am Beginn steht die gewaltige Herrschergestalt Karls des Großen. Nicht mit Unrecht hat man ihn den Vater unserer Litteratur genannt. Drei Richtungen, die sich sonst scharf befehdeten, die christliche, die antike und die nationale, vereinte er in seiner Person. In Italien mit tiefer Bewunderung für die alte Kultur erfüllt, pflegte er an seinem Hofe zu Aachen in einer gelehrten Akademie, der der Angelsachse Alkuin, der Langobarde Paulus Diaconus, der Franke Einhard, der Italiener Petrus von Pisa u. a. angehörten, Kunst und Wissenschaft, zumal lat. Dichtung, und ließ durch Alkuin für die Schulbildung von Laien und Klerus, sogar mit Hilfe des Schulzwangs sorgen. Daneben aber sammelte der german. Volkskönig die alten deutschen Heldenlieder wie die leges barbarorum und arbeitete an einer deutschen Grammatik. Ein frommer Christ, dem die innerliche Bekehrung seines Volks tiefste Herzenssache war, sorgte er durch strenge Erlasse dafür, daß den Deutschen die Hauptlehren des christl. Glaubens auch in deutscher Sprache zugänglich wurden. So veranlaßte er eine nicht unbeträchtliche deutsche Prosalitteratur, deutsche Gebete, Tauf- und Beichtformeln, Katechismusstücke aller Art, aber auch größere theol. Übersetzungen, die zwar meist über schülerhafte Interlinearversionen kaum hinausgingen, aber doch in den sog. Monseer Fragmenten (hg. von Hench, Straßb. 1890), der trefflichen Version des Matthäusevangeliums, eines Traktats Isidors von Sevilla (hg. von Hench, Straßb. 1893) und einiger Predigten eine rühmliche Höhe erstiegen. Der Nordwesten Deutschlands, in dem Karl d. Gr. Hof hielt, ist dem Süden damals in freiem, selbständigem Gebrauch der deutschen Prosa entschieden überlegen; auch das im bayr. Kloster Wessobrunn schlecht erhaltene Wessobrunner Gebet (s. Wessobrunn), ein halb allitterierendes, halb prosaisches fragmentarisches Gemisch heidnisch-christl. Formeln, weist durch sächs. Sprachformen nach dem Norden hin, der uns damals auch das Hildebrandslied rettete. Dom- und Klosterschulen waren die Heimat jener frommen Litteratur: damals oder im spätern Mittelalter ragten in der Schweiz St. Gallen und Reichenau, im Elsaß Murbach und Weißenburg, in Bayern Freising, St. Emmeram und Benediktbeuern, in Österreich Monsee, Melk, Vorau und Millstädt, in Mitteldeutschland Fulda, wo Hrabanus Maurus 804-822 lehrte, als Pflegestätten christl. Kultur rühmlich hervor.

Karls borniert bigotter Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme machte sich die nationalen Bestrebungen des großen Vaters nur insofern zu eigen, als sie zugleich der Kirche zu gute kommen mußten. Unter seiner Regierung wurde es der Geistlichkeit klar, daß der verhaßte heidn.-profane Volksgesang durch bloße Verbote nicht beseitigt werden könne. Sie suchte ihn jetzt durch christl. Dichtung zu verdrängen. So entstand um 830 außer anderm Verlorenen das schöne Gedicht eines talentvollen sächs. Geistlichen, der Heliand (s. d.), das sich bewußt und verständnisvoll an den german.-epischen Stil anlehnte und nur statt der gesungenen strophischen Einzellieder ein unstrophisch fortlaufendes recitiertes Epos einführte; so entstand später (um 870) die minder volkstümliche, mit gelehrten Spekulationen und Deutungen überladene Evangelienharmonie unsers ersten mit Namen bekannten Dichters, des Weißenburger Mönches Otfried (s. d.), der zuerst in einem größern Werk die Allitteration durch den aus der christl.-lat. Dichtung geläufigen, aber auch in deutschen Gedichten nicht mehr fremden Endreim ersetzte. Dieser wurde schnell die herrschende poet. Form. Zwar ist das unter Ludwig dem