Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

3

Deutsche Litteratur

Deutschen (um 880) aufgezeichnete, aber erheblich ältere interessante Gedicht vom Weltuntergang, das Muspilli (s. d.), das christl. Anschauungen in vielfach heidnischen, wundervoll epischen Formeln schildert, noch fast ganz stabreimend; jedoch zeigen zahlreiche kleinere geistliche Dichtungen, unter denen das schwungvolle, naiv kräftige Ludwigslied (s. d., 881) hervorragt, gereimte Strophen, und spätestens im 10. Jahrh. herrscht der Reim auch im volkstümlich weltlichen Liede, wie St. Galler Verse von einem verwundeten Rieseneber beweisen.

Zu den einseitig und engherzig kirchlichen Bestrebungen Ludwigs des Frommen und seiner Nachfolger bildet einen starken Gegensatz die Litteratur des Zeitalters der Ottonen. Den glänzenden polit. Aufschwung begleitet schnelles Wachstum der weltlichen Bildung und fröhliche, üppige Lebenslust. Aber der deutschen Dichtung kam dieser Wandel nur wenig zu gute. Die Sprache der höfischen Dichtung dieser Jahre war ausschließlich lateinisch, und fast nur aus Zeugnissen wissen wir, daß deutscher Volksgesang sich mit den geschichtlichen Ereignissen der Zeit und mit der Heldensage beschäftigte. Immerhin drangen damals die Gestalten Ottos mit dem Barte und Herzog Ernsts in das Interesse des Volks; die aus Italien und dem Orient eingeführten sehr weltlichen Schwänke und Novellen, die an den Höfen, zum Teil in der schwierigen ungleichstrophigen Form der Modi (s. d.), lateinisch gesungen wurden, gingen dem Volke ebensowenig verloren, wie die damals aus Indien und Griechenland über Rom importierten Tierfabeln; andererseits fand in den lat. Hexametern des trotz seiner virgilischen Sprache von echt german. Geiste durchwehten Epos "Waltharius" (s. d.) von dem St. Galler Mönche Eckehart I. (925) die Heldensage auch die Teilnahme der Geistlichen. Denn auch sie huldigen dem weltlichen Geiste der Epoche unbedenklich; selbst die knappen lat. Prosadramen der kernhaften Gandersheimer Nonne Roswitha behandeln, obgleich sie als christl. Dichtungen den Heiden Terenz verdrängen sollen, höchst anstößige Themata mit unbefangenem Realismus, und die ganze lachende Lebensfülle der Zeit mit ihrer naiven Freude an Glanz und Stoff faßt zusammen das prächtige, farbenreiche lat. Rittergedicht "Ruodlieb" eines Tegernseer Mönches (um 1025). Im 10. Jahrh. erlebte das Kloster St. Gallen seine höchste Blüte. Von Notker I. Balbulus, dem Geschichtschreiber, Musiker und Sequenzendichter (gest. 912), reicht eine lange Reihe talentvoller lat. Historiker und Dichter, Musiker, Architekten und Maler, Schulmeister und Ärzte bis auf Notker III. Labeo oder Teutonicus (gest. 1022), den fruchtbaren und geschickten Übersetzer und Erklärer christl. und antiker Litteratur, den ersten bedeutenden Prosaiker in deutscher Sprache, den einzigen deutschen Schriftsteller seiner Zeit: er hat zuerst die Muttersprache auf wissenschaftliche Dinge angewendet und den Bedürfnissen abstrakter Darstellung angepaßt.

Diesem freien künstlerischen und wissenschaftlichen Leben in den Klöstern der Ottonenzeit machte die cluniacensische Reform (s. Cluny) ein trübseliges Ende. In Haß gegen Bildung und Weltlust, in ascetischer Disciplin erzogen, sucht die Geistlichkeit des 11. Jahrh. auch in den Laien alle Lebensfreude durch finstere Bußpredigt zu ertöten. Um 1050 dichtete nahe bei St. Gallen ein Notker sein düsteres "Memento mori". Wieder war dieses Strebens unüberwindlicher Feind der Volksgesang, der namentlich in Bayern und Niederdeutschland blühte, und wieder suchte man ihn zu bekämpfen durch geistliche Poesie, natürlich in deutscher Sprache; sie war eine wirksame Ergänzung der damals an Bedeutung wachsenden deutschen Predigt.

III. Mittelhochdeutsche Periode (von der Mitte des 11. bis in die Anfänge des 14. Jahrh.). In ihrem Beginn steht eine lange Zeit fast ausschließlich geistlicher Dichtung; neben ihr tritt die nur spärlich vorhandene geistliche Prosa weit zurück, die in der stilistisch üppigen allegorischen Paraphrase des Hohen Liedes von dem Ebersberger Abt Williram (um 1060) immerhin ein glänzendes Werk aufzuweisen hat, und von weltlicher Poesie ist höchstens das Fragment einer abenteuerlichen poet. Erdbeschreibung, der "Merigarto" (um 1050) zu nennen. Jene geistliche Dichtung, die namentlich in der Vorauer, der Millstädter und der Straßburg-Molsheimer Handschrift erhalten ist oder war, wirkt im großen und ganzen ermüdend und einförmig, wenn auch örtliche und zeitliche Unterschiede nicht fehlen. Österr. Epen, die um 1070 und später Genesis und Exodus schlicht und ursprünglich erzählen, verraten noch Einfluß des Heldensangs. Auf alamann. Gebiet erwuchs die anmutige geistliche Allegorie von der "Hochzeit". In Franken gedeihen strophische hymnenartige Gesänge, unter denen Ezzos Lied von dem Anegenge (um 1065) den höchsten Rang einnimmt. Hier und am Niederrhein blüht die Legendendichtung, die auch von Spielleuten geübt (die sog. Ältere Judith u. a.) wurde und in dem fragmentarisch erhaltenen mittelfränk. Legendar um 1125 sogar ein großes Sammelgedicht hervorbrachte. Seit etwa 1100 wirkt die bedeutende franz. Theologie, zumal die Lehren Abälards (s. d.) und die encyklopäd. Arbeiten des Fanatikers Honorius von Autun nach Deutschland herüber, so auf die neutestamentlichen Dichtungen der Frau Ava (gest. 1127) und aus die wüsten Kompilationen des kärnt. Priesters Arnold über die Siebenzahl. Es ist dies die erste Etappe franz. Einflusses auf die mittelhochdeutsche Zeit. Mehr und mehr drängt Sündenklage und Bußpredigt alle andern Stoffe zurück. Sie herrscht in dem "Credo" des Armen Hartmann, zeigt in den socialen Betrachtungen der kärnt. Dichtung "Vom Rechte" ihre demokratische Seite und gipfelt in den gewaltigen, derb realistischen Sittengemälden des genialen, rücksichtslos harten Satirikers Heinrich von Melk (um 1160) und des geistesverwandten Zeitgenossen, der das Priesterleben mit kühner Schärfe geißelte. (Vgl. Piper, Die geistliche Dichtung des Mittelalters, in Kürschners "Nationalliteratur", Bd. 3.)

Doch die Freuden der Welt sind stärker als die Drohungen der Kirche, der weltliche Spielmann siegt beim Publikum über den geistlichen Dichter. Die Kreuzzüge, anfangs eine starke Waffe in den Händen der Kirche, schaffen ein internationales Rittertum, für das wiederum Frankreich den Ton angab, und dem die Wunder des Orients eine weltliche Abenteuerlust, seine glühenden Farben, seine üppigen Genüsse eine Freude an sinnlicher Pracht einflößten, die von den alten Idealen des Glaubenskampfes weit abführte; auch die Ideale feinster Sitte, die aus Frankreich nach Deutschland drangen, die Pflege höfischen Minnedienstes, die strenge gesellschaftliche Isolierung des Rittertums stimmte wenig zu den Tendenzen der Kirche.