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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1871-88)

erfolge im Verein mit der Haltung Rußlands erstickten auch alle kriegerischen Gedanken in Österreich und Italien. Nachdem das deutsche Volk gesehen hatte, welch große Erfolge durch die militär. Einheit Deutschlands unter Preußens Führung errungen wurden, sträubte es sich auch im Süden nicht länger mehr, der polit. Einigung beizustimmen, und forderte den Anschluß an den Norddeutschen Bund. Die feindlichen Parteien in Bayern und Württemberg wagten keinen Widerstand. Die bad. Regierung stellte jetzt den formellen Antrag auf Aufnahme in den Nordbund; gleichzeitig fanden im September Besprechungen Delbrücks mit den bayr. und württemb. Ministern in München statt, bei denen die erstern freilich nicht geringe Forderungen stellten. Aber der Abschluß der Verfassungsverträge mit Baden und Hessen in Versailles 15. Nov. drängte auch Bayern und Württemberg zur Nachfolge am 23. und 25. Nov. Die Reservatrechte, die Bayern sich ausbedungen hatte, waren erheblich: es behielt seine eigene Diplomatie, die Verwaltung des Heerwesens, der Post, der Telegraphen und Eisenbahnen, besondere Besteuerung des Biers und Branntweins und wollte, um seine eigene kurz zuvor erst durchgeführte Gesetzgebung nicht umzustoßen, von den Bundesgesetzen über Heimats- und Niederlassungsverhältnisse nicht berührt werden. Minder wichtig waren die Bestimmungen über den diplomat. Ausschuß und das Verfassungsveto. Das bayr. Heerwesen hatte sich übrigens den Bestimmungen der Bundeskriegsverfassung gemäß einzurichten, und der Bundesfeldherr hatte das Recht der Anordnung der Mobilisierung und der Inspektion. Die Reservatrechte der drei andern süddeutschen Staaten waren bescheidener ausgefallen. (S. oben Staatsrechtliches, S. 146 fg.)

So bedauernswert auch einzelne dieser Sonderbestimmungen den Nationalgesinnten erschienen, so glaubten sie doch die Einheit Deutschlands durch solche Konzessionen nicht zu teuer zu erkaufen, hofften auch, durch die gemeinsame parlamentarische Arbeit in der Zukunft manches verbessert oder gemildert zu sehen. So genehmigten der Norddeutsche Reichstag und die Landtage in Hessen, Baden und Württemberg die Versailler Verträge. In Bayern wurden sie von der Reichsratskammer mit überwiegender Mehrheit 30. Dez., von der Abgeordnetenkammer aber erst 21. Jan. 1871 nach elftägiger Debatte mit 102 gegen 48 Stimmen genehmigt.

9) Von der Errichtung des Deutschen Reichs bis zum Tode Kaiser Wilhelms I., 1871-88. Nachdem König Ludwig von Bayern unter Zustimmung sämtlicher deutschen Regierungen dem König von Preußen den Titel eines Deutschen Kaisers angetragen hatte, erfolgte 18. Jan. im Versailler Schloß die feierliche Proklamierung der Kaiserwürde. Es folgten 28. Jan. die Kapitulation von Paris, 26. Febr. die Friedenspräliminarien von Versailles, 10. Mai der definitive Friedensschluß zu Frankfurt a. M. Die Wiedergewinnung von Elsaß und Deutsch-Lothringen mit Straßburg und Metz entsprach nicht nur den nationalen Wünschen des deutschen Volks, sondern war auch eine militär. Notwendigkeit. Nachdem von der Kriegskontribution von 5 Milliarden Frs. die letzte Rate 1873 abgezahlt worden war, begann die Räumung der noch occupierten Gebiete Frankreichs, und 16. Sept. 1873 überschritt der letzte deutsche Soldat die franz. Grenze.

In der auswärtigen Politik des Deutschen Reichs nach den Siegen von 1870 und 1871 zeigte sich sogleich, von welchem Gewicht die neue Macht den übrigen Staaten erschien. In Ischl und Salzburg fand 1871 eine Zusammenkunft des Kaisers Wilhelm mit Kaiser Franz Joseph statt. Die Entlassung des wenig preußenfreundlichen Grafen Beust und die Ernennung des Grafen Andrássy zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten Österreichs erleichterte die vollständige Versöhnung der Regierungen beider Reiche. Andererseits ließ Kaiser Alexander II. von Rußland keine Gelegenheit vorübergehen, ohne seine Sympathie für Kaiser Wilhelm zu bezeugen. Die Drei-Kaiser-Zusammenkunft in Berlin, 5. bis 11. Sept. 1872, war ein glänzender Ausdruck der Anerkennung des Deutschen Reichs und bekundete, auch ohne daß schriftliche Abmachungen zu stande kamen, das Bestreben der drei Kaiser, in allen großen Fragen der Politik im Einvernehmen miteinander handeln zu wollen. König Victor Emanuel von Italien, der 1870 um den Preis der Überlassung Roms bereit gewesen war, den Kaiser Napoleon im Kriege gegen Deutschland zu unterstützen, machte 1873, als er sich durch die klerikal-bourbonische Agitation in Frankreich bedroht sah, einen Besuch in Wien und Berlin, den Kaiser Wilhelm in Mailand erwiderte. Mit Frankreich wurde 1871 der diplomat. Verkehr wiederhergestellt. Deutschland suchte jeden Konflikt zu vermeiden, gab aber bei etwaiger Gelegenheit zu verstehen, daß es einem neuen Kampfe nicht ausweichen werde. Die Ermordung zweier deutschen Soldaten durch franz. Bürger und die Freisprechung der Mörder durch die franz. Geschwornen, die Angriffe auf die kaiserl. Person und Regierung in den Hirtenbriefen franz. Bischöfe (1873) wurden gebührend beantwortet, und in einem Rundschreiben (Jan. 1874) ließ die Reichsregierung keinen Zweifel daran übrig, daß sie, wenn der Zusammenstoß unvermeidlich sei, den für Frankreich passendsten Augenblick nicht erst abwarten werde. Im Frühjahr 1875 ließ sie eine ähnliche Warnung an Frankreich ergehen. Die mit verdächtigem Eifer daselbst betriebenen Heeresorganisationen legten den Gedanken nahe, daß hier zu einem Rachekriege gerüstet würde; dazu traten Gerüchte über ultramontane Bestrebungen in Österreich und Italien, um einen klerikalen Dreibund gegen Deutschland zu schaffen; aber das Einverständnis an den leitenden Stellen der drei Kaisermächte ließ eine Kriegsgefahr nicht aufkommen.

Der erste Deutsche Reichstag wurde vom Kaiser 21. März 1871 in Berlin, der neuen Reichshauptstadt, eröffnet. Das neue Deutsche Reich, sagte die Thronrede, sollte ein Reich des Friedens sein, das ausschließlich seinen eigenen Angelegenheiten lebe. Als aber die nationalen Parteien eine Adresse beantragten, die eben diesen Gedanken betonte und jede Einmischung in das innere Leben anderer Völker von sich wies, widersprach die neugebildete kath. Centrumspartei, die die mittelalterlichen Römerzüge erneuern und die Macht des Reichs zur Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes benutzen wollte. Die Centrumspartei, im Einklang mit den deutschen Bischöfen, die auf dem Vatikanischen Konzil von 1870 großenteils das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes bekämpft, bald darauf aber sämtlich dasselbe anerkannt und dessen Annahme allen Katholiken zur Glaubenspflicht gemacht hatten, drängte durch ihre maßlosen Forderungen und ihre Begünstigung poln. und welfischer Bestrebungen der Reichsregierung die Eröffnung des sog. Kulturkampfes auf. Ursprünglich war es