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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ethik

welchem Falle das Wollen überhaupt grundlos bliebe, so muß ein letzter Zweck vorausgesetzt werden, um deswillen alles Weitere, der selbst aber um keines andern willen, sondern schlechthin gewollt wird; dieser heißt Endzweck, absoluter Zweck (auch wohl Selbstzweck). Offenbar kann nun kein einzelner Gegenstand des Begehrens (Lust oder Befriedigung) Endzweck sein; auch nicht etwa Lust oder Glückseligkeit überhaupt, oder etwa das erreichbare Maximum der Lust und Minimum der Unlust für den Einzelnen oder für irgend eine Gesamtheit. Außer daß die Lust- und Unlustfolgen der Handlung sich schwerlich je auch nur annähernd übersehen lassen, würden die Begriffe des Sittlichen bei dieser Begründung in ein unsicheres Schwanken geraten, mindestens einer bedenklichen Kasuistik anheimfallen. Man versteht dann z. B. nicht, weshalb die Handlungsweise dessen, der durch feinen, von keinem bemerkten Betrug sich eine sehr behagliche Existenz zu verschaffen versteht und dabei die vorübergehenden und schwachen Gewissensbisse gewiß minder lebhaft fühlt als die Freude des Gelingens, sittlich tadelhafter sein sollte als die des darbenden Ehrlichen, der den Druck der Not zweifellos stärker empfindet als den armseligen Stolz, kein Betrüger zu sein. Somit sind Lust und Unlust nicht die alleinigen Faktoren, die unser Urteil über die Handlung, mithin auch den Willen selbst bestimmen. Das Sittengesetz sagt z. B. nicht: Sei ehrlich und betrüge nicht, wofern du voraussichtlich mehr Befriedigung (für dich und andere) als Unbefriedigung dabei erzielst; sondern: Sei ehrlich, auch wenn du keinen Vorteil für dich, ja selbst, wenn du empfindlichen Nachteil für dich und vielleicht nicht einmal einen dagegen in Betracht kommenden Vorteil für andere davon voraussiehst. Dies kommt daher, daß das sittliche Urteil nicht die Handlung, bloß sofern sie geschah und gewisse Folgen (thatsächlich oder möglicher- oder notwendigerweise) nach sich zog, ins Auge faßt, sondern die Handlung selbst wie deren Folgen ausschließlich, sofern sie gewollt ist, und das Princip, aus dem sie gewollt ist, zum Objekt hat. So wird im vorigen Beispiel der Eine als gut beurteilt, weil er den Willen hat, ein ehrlicher Mensch zu sein, und sich durch keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Folgen für ihn oder andere beirren läßt; der Andere als böse, weil er diesen Willen nicht besitzt, sondern allenfalls, soweit es sein Vorteil erheischt, den Schein der Ehrlichkeit behaupten möchte, vor sich selbst aber die Maske abwirft und nur an seinen Gewinn denkt. Viel milder schon wird der beurteilt, der zwar gern ehrlich sein möchte, aber dem Drange der Not und der Stärke der Versuchung bisweilen unterliegt. Die Beurteilung bezieht sich also stets aus die Willensbeschaffenheit oder Gesinnung direkt, und auf die Handlung nur, sofern sie die Gesinnung kundgiebt; mit den Folgen der Handlung hat sie direkt und an sich gar nichts zu thun, sondern allenfalls nur, sofern auch die Rücksicht auf sie für die Beurteilung der Gesinnung in Betracht kommt; daher z. B. das sittliche Urteil über eine Handlungsweise ganz verschieden ausfallen kann, je nach dem Maße der Einsicht, nach der Weite des geistigen Horizonts, die man bei der beurteilten Person voraussetzt. Dieser für alles sittliche Urteil grundlegende Unterschied, der dem gemeinen sittlichen Bewußtsein völlig klar ist, fordert jedenfalls eine Erklärung. Der eigentliche Ausdruck für diese Unbedingtheit des sittlichen Gebotes ist die Pflicht (s. d.), welcher Begriff daher mit vollem Recht von Kant in den Mittelpunkt der ethischen Untersuchung gestellt wird. Die Antwort nun auf die große Frage, wie Sittlichkeit in diesem Sinne des unbedingten Pflichtgebots zu erklären sei, kann zuletzt nur darauf fußen: daß wir Vernunftwesen sind; d. h., daß wir ein letztes unbedingtes Princip des Wollens eben nicht entbehren können; daß wir, in unserm praktischen wie theoretischen Bewußtsein, der ganzen Welt der Natur oder Erfahrung gegenübertreten, allem empirisch Bedingten, eben weil es bedingt ist, die Unbedingtheit, in der wir die sittliche Forderung notwendig denken, entgegenhalten und sagen können: Fiat iustitia, pereat mundus (es geschehe was Recht ist, und ob die Welt darüber zu Grunde ginge). Mehr als daß wir dieses Gedankens fähig, also in unserm Denken, in unserer Idee des Sittlichen nicht ganz der Bedingtheit der Erfahrung unterworfen sind, bedarf es in der That nicht; denn daß, wer den Gedanken des Unbedingten überhaupt faßt, ihn notwendig allem Bedingten als letztentscheidende Instanz entgegenstellt, ist selbstverständlich. Auf dem gleichen Princip beruht die Lösung des schwierigen, aber für die E. nicht minder fundamentalen Problems der Freiheit (s. d.), das mit dem eben besprochenen eigentlich zusammenfällt.

Ist so die Grundfrage der E. gelöst, so beantwortet sich leichter die weitere Frage: was ist gut? d. h. welche Gesetze des Handelns können jenen hohen Anspruch der unbedingten Geltung mit Grund erheben? Allerdings wird kein einzelnes, ein bestimmtes empirisches Verhalten vorschreibendes Gesetz diesen Anspruch behaupten können. Es heißt z. B.: du sollst nicht töten, nicht stehlen u. s. w.; allein z. B. der Staat und wen er dazu ermächtigt, darf mit sittlichem Fug und Recht töten, enteignen, Ehen und sonstige Verträge durch Zwang aufheben u. s. w. In letzter Linie ist alles Empirische dem Sittengesetz gegenüber bloß verfügbarer Stoff; nichts Empirisches darf unbedingt gelten wollen, wie nichts Unbedingtes je empirisch werden kann. Es giebt nur ein unwandelbar, unter allen Bedingungen Gutes, und das ist die Sittlichkeit des Willens selbst. ("Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille", sagt Kant.) Unverletzlich ist daher unter allen Umständen die Würde der sittlichen Person selbst. Alles andere hat seinen Preis oder Tauschwert, der Mensch allein, als sittliche Person, hat eine Würde, die über allen Marktpreis erhaben, deren Verlust durch nichts anderes zu ersetzen ist. Aus diese Würde aber läßt sich in der That alles, was zum menschlichen Dasein gehört, auch das Niederste und Geringste, beziehen und dadurch adeln und versittlichen; insofern ist Sittlichkeit natürlich der Entwicklung unterworfen und eines unbegrenzten Fortschritts fähig. Das ist der Boden, auf dem die Sonderbegriffe der Tugenden entspringen; während der Grund des Guten oder der Tugend überhaupt ein einiger und unwandelbarer sein muß. Eine ausgeführte Tugendlehre ist daher nur auf empirischer Grundlage möglich, und es haben hier die Erwägungen der Glückseligkeit, Nützlichkeit u. s. w. ihr Recht, wenn sie nur nicht den Anspruch erheben, den letzten Grund, warum etwas gut ist, auszumachen, sondern den auf anderm Boden zu begründenden Principien der Sittlichkeit sich willig unterordnen.

Die Geschichte der philosophischen E. zeigt eine große Mannigfaltigkeit von Richtungen, während